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Der Streit um Mitbestimmung und Gruppenuniversität (29. Mai 1973)

Das Bundesland Niedersachsen änderte 1971 sein System der Hochschulverwaltung. Das neue System bedeutete einen Rückschlag für die traditionelle „Professorenhochschule“, da es anderen Gruppen wie wissenschaftlichen Mitarbeitern, Studenten und nichtwissenschaftlichen Mitarbeitern größere Mitbestimmung einräumte. Die Vertreter dieser Gruppen und die Professoren waren nun zu gleichen Anteilen in akademischen Räten und Körperschaften repräsentiert. Die Professoren reagierten mit einer Verfassungsbeschwerde. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts stärkte die Stellung der Professoren gegenüber den anderen Gruppen, indem es die Parität in Entscheidungsprozessen wieder abschaffte. In der Folge des Urteils mussten eine Reihe von Hochschulgesetzen (z.B. in Berlin) geändert werden.

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Hochschulurteil des Bundesverfassungsgerichts


1. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG gewährleistet dem Wissenschaftler einen gegen Eingriffe des Staates geschützten Freiraum, der vor allem die auf wissenschaftlicher Eigengesetzlichkeit beruhenden Prozesse, Verhaltensweisen und Entscheidungen bei dem Auffinden von Erkenntnissen, ihrer Deutung und Weitergabe umfaßt.

2. Art. 5 Abs. 3 GG ist zugleich eine das Verhältnis der Wissenschaft zum Staat regelnde wertentscheidende Grundsatznorm. Danach hat der Staat im Bereich des mit öffentlichen Mitteln eingerichteten und unterhaltenen Wissenschaftsbetriebs durch geeignete organisatorische Maßnahmen dafür zu sorgen, daß das Grundrecht der freien wissenschaftlichen Betätigung soweit unangetastet bleibt, wie das unter Berücksichtigung der anderen legitimen Aufgaben der Wissenschaftseinrichtungen und der Grundrechte der verschiedenen Beteiligten möglich ist.

3. Dem einzelnen Grundrechtsträger erwächst aus der Wertentscheidung des Art. 5 Abs. 3 GG ein Recht auf solche staatlichen Maßnahmen auch organisatorischer Art, die zum Schutz seines grundrechtlich gesicherten Freiheitsraums unerläßlich sind, weil sie ihm freie wissenschaftliche Betätigung überhaupt erst ermöglichen.

4. Die Garantie der Wissenschaftsfreiheit hat weder das überlieferte Strukturmodell der deutschen Universität zur Grundlage, noch schreibt sie überhaupt eine bestimmte Organisationsform des Wissenschaftsbetriebs an den Hochschulen vor.

5. Das organisatorische System der „Gruppenuniversität“ ist als solches mit Art. 5 Abs. 3 GG vereinbar.

6. Wenn der Staat im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit die Organisation der Wissenschaftsverwaltung unter Berücksichtigung der verschiedenartigen Interessen und Funktionen der einzelnen Gruppen von Hochschulmitgliedern gestaltet, so muß er nach Art. 5 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG der herausgehobenen Stellung der Hochschullehrer Rechnung tragen.

7. Organisationsnormen müssen den Hochschulangehörigen, insbesondere den Hochschullehrern, einen möglichst breiten Raum für freie wissenschaftliche Betätigung sichern, andererseits müssen sie die Funktionsfähigkeit der wissenschaftlichen Hochschule und ihrer Organe gewährleisten.

8. Soweit gruppenmäßig zusammengesetzte Kollegialorgane über Angelegenheiten zu befinden haben, die Forschung und Lehre unmittelbar betreffen, müssen folgende Grundsätze beachtet werden:

a) Die Gruppe der Hochschullehrer muß homogen, d.h. nach Unterscheidungsmerkmalen zusammengesetzt sein, die sie gegen andere Gruppen eindeutig abgrenzen.

b) Bei Entscheidungen, welche unmittelbar die Lehre betreffen, muß die Gruppe der Hochschullehrer der ihrer besonderen Stellung entsprechende maßgebende Einfluß verbleiben. Diesem Erfordernis wird genügt, wenn diese Gruppe über die Hälfte der Stimmen verfügt.

c) Bei Entscheidungen, die unmittelbar Fragen der Forschung oder die Berufung der Hochschullehrer betreffen, muß der Gruppe der Hochschullehrer ein weitergehender, ausschlaggebender Einfluß vorbehalten bleiben.

d) Bei allen Entscheidungen über Fragen von Forschung und Lehre ist eine undifferenzierte Beteiligung der Gruppe der nichtwissenschaftlichen Bediensteten auszuschließen.



Quelle: BVerfGE 35, 79, Urteil des Bundesverfassungsgericht vom 29. Mai 1973.

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