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Stefan Großmann, „Der Radiokritiker” (1926)


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Der Radiokritiker


Meinen Freund Ernst Rowohlt habe ich immer bewundert, nicht erst, seit er Wilhelm II. populär gemacht hat, sondern von dem Tage an, da er am Ende eines weinreichen Abends das Glas zu essen begann, aus dem er getrunken hatte. Verlegen kann bald einer, aber Glas fressen!

Nun hab ich aber jemanden gefunden, der einen noch viel besseren Magen hat. Dagegen ist Glasfressen gar nichts; ich will seinen Namen nicht verraten, bloß sein Metier: Er ist Radiokritiker. Er sitzt, wenn man seinen knappen Schilderungen, die er allsonntäglich veröffentlicht, glauben darf, jeden Tag am Hörer oder vielmehr der Hörer sitzt auf seinem Schädel, und nun verschlingt er folgendes: das Theaterstück „Doktor Klaus“ von L’Arronge mit Alfred Braun, 200 Jahre Orchestermusik, Beethoven gewidmet, eine Andachtsstunde von Leopold Schmidt, anekdotengewürzt. Paul Linckes humorig-melodiöse Operette „Frau Venus“, den Rüdelschen Chor, Adventlieder des Funkchores, Otto Ernsts freundliches Wintersonnenmärchen, von Alfred Braun vorgetragen, dann ein paar flotte Mandolinisten, das Soloquartett Patria, dann wieder 200 Jahre Orchestermusik, die Jupitersymphonie von Mozart, hierauf Hans Brennert, Paul Graetz und Alfred Braun. Das ist die Berliner Nahrung des aufnahmefähigen Mannes. Dazu meldet sich aber Dortmund, Elberfeld, Hamburg, Königsberg, Breslau, Frankfurt a. M., Wien, Prag und Stockholm. Er hört eine Puccinifeier in Elberfeld, eine Richard-Dehmelfeier in Hamburg, Hans Reimann in Königsberg, Bachs Orgelfugen aus London, Reinhard Sorges Drama „Der Bettler“ in Elberfeld, Löwes Balladen singt Schützendorf in Berlin, Kiel frischt Gluck auf (wer den Kritiker?), aus Breslau dringt Fuldas „Verlorene Tochter“ herüber, aus Frankfurt „Robert u. Bertram“, Stuttgart belebt Mendelssohn, Wien Stefan Zweig, Stockholm gibt via Göteborg deutschen Unterricht, Danzig erläutert Hauptmanns Frauengestalten, Agram wird von Bonsels „Biene Maja“ durchschwirrt, Münster gibt ein Händelfest, Dublin verbreitet deutsche Musik, Budapest Kindermärchen (nicht von Horthy) und Gleiwitz erzählt vom Bergmannsleben.

Ich habe ein gut Teil der Genüsse weglassen müssen, die auf den bewunderungswürdigen Mann in einer gewöhnlichen Woche, ohne Feiertage, einstürmen. Der Arme hört nun schon seit ein oder zwei Jahren, hört und kritisiert, genießt fortwährend Beethoven und Fulda, jeden Tag ein paarmal Alfred Braun, Leopold Schmidt, anekdotengewürzt. Otto Ernst und Mozart und Paul Lincke, hört und berichtet. Zwei Jahre sitzt er nun schon am Hörer, dieser Unglückselige, und lauscht auf Berlin, Graz, Dublin, Gleiwitz und Stockholm, lauscht und rezensiert. Es muß fürchterlicher sein als die Tretmühle, die Wilde beschreibt, und es ist, wenn der Mann nicht zusammenbricht, eine Anstellung auf Lebenszeit oder, grausamer gesagt, er ist ein Lebenslänglicher. Ich wüßte nur einen Mann, der diese Fülle der Kunstgenüsse ohne Beschwerden aufnehmen könnte, weil ihn Geist, Herz und Nerven zu dieser seltenen Aufnahmefähigkeit prädestinieren: Julius Bab. Er würde diese Arbeit jahrzehntelang vertragen, und am Ende käme noch ein dreibändiges Werk „Aesthetik des Radio“ heraus, das in der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart erschiene.



Quelle: Stefan Großmann, „Der Radiokritiker“, Das Tage-Buch, Berlin, 18. Dezember 1926, Heft 51, Jahrgang 7, S. 1956-57.

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