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Carl Schwabe über sein Leben in Deutschland vor der Machtergreifung (Rückblick 1939)


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Wir konnten uns dem Geist der Zeit nicht entziehen. Wir glaubten, durch die Schaffung besserer Ausstellungsmöglichkeiten und durch bessere Ausstattung der Verkaufsräume sowie durch größere Lagerhaltung unseren Rang behaupten zu können. So bauten wir im Jahre 1928 unser Haupthaus völlig um. Ich nahm eine Hypothek auf und glaubte so, finanziell für alle Fälle stark genug zu sein. Mein Teilhaber erlitt einen Schlaganfall, und so fiel leider gerade um diese Zeit seine wertvolle Arbeitskraft und Erfahrung weg. Mit meinem neuen Teilhaber, seinem Schwiegersohn, verstand ich mich gar nicht. Bald kam es zu ernsten Differenzen, und ich mußte mich von ihm trennen. Er schied aus der Firma aus. Da Herr S. nicht mehr tätig war, schloß ich mit ihm einen neuen Vertrag, der ihm ein bestimmtes Einkommen unabhängig vom Geschäftsgang sicherte. Zunächst ging alles gut. Die neue Schaufensterpassage brachte tatsächlich neue Kunden. Die Warenhäuser eröffneten, die Preise wurden gedrückt, die scharfe Konkurrenz machte sich fühlbar. Trotz allem blieb der Umsatz zunächst ungeschmälert. Ich erwog mit einigen anderen Firmen Fusionspläne. So ging das Jahr 1929 dahin.

Wir hatten trotz aller Kämpfe, Aufregungen und Sorgen ein schönes Familienleben und fühlten uns froh und stark. Meine Frau war gesund. Der Kleine lebte in seinem grünen Garten im Kinderparadies. Der große Sandhaufen, den wir ihm hatten aufschütten lassen, lockte Spielkameraden herbei, und immer war lustige Gesellschaft da. Mein Bruder hatte sich eine sehr gute Praxis aufgebaut, die ständig zunahm. Er war jetzt viel zufriedener als früher. Besonders in einfachen Kreisen war er außerordentlich beliebt. Man wußte, für Dr. Schwabe war keine Stunde zu spät und kein Weg zu weit, wenn er gebraucht wurde.

Ein neuer Kunstverein hatte sich gebildet, der mit Lichtbildvorträgen, Konzerten und anderen Veranstaltungen viele Anregungen brachte. Jüdische Akademiker, die sich nach dem Krieg niedergelassen hatten, wirkten führend mit. Wir kauften unser erstes Radio: unvergeßlich die Aufregung und das Entzücken, zum ersten Mal eine Oper- es war Faust von Gounod- aus Budapest zu hören. Der Rundfunk war damals noch völlig unpolitisch und die Programme weit künstlerischer als heute. Es erschienen die ersten Kriegsromane. Reinhard Wehr brachte in der Frankfurter Zeitung seine realistischen Schilderungen. Remarque veröffentlichte sein Im Westen nichts Neues. Jakob Wassermanns großartige gesellschaftskritische Romane erschienen, Hermann Hesse, Werfel und die Zweigs und viele andere brachten neue Werke und wurden viel gelesen.

Ich fuhr häufig nach Berlin, meine Frau begleitete mich öfter. Viele neue Firmen hatten sich aufgetan, der Einkauf war dadurch nicht erleichtert. Immer mehr Auswahl sollte gebracht werden, jede Firma suchte einen ganz speziellen Warentyp herauszuarbeiten. Berlin suchte sich selbst zu überbieten. Außer Max Reinhardt brachten auch die anderen Theater glanzvolle Aufführungen. Schnell vergessene Tagesgrößen und Klassiker wurden mit gleicher Sorgfalt inszeniert. Revuen nach französisch-amerikanischem Vorbild zeigten immer größeren Prunk und immer knappere Kostüme. Wir hatten Verwandte in Berlin und machten im Sommer öfter mit ihnen Autotouren in die herrliche Berliner Umgebung. Ich zeigte Lotte Sanssouci und die Havelseen, wir fuhren nach Wannsee und auch nach Treptow, wo die Berliner Arbeiter ihren Sonntag feiern. Ein anderes Berlin. Berlin O. Hier sitzt die Möbelindustrie, auch hier hatte ich einzukaufen. Es gab keine Prunkstraßen, sondern Riesenfabriken und Lagerhäuser, endlose Mietskasernen mit sonnenlosen Höfen, unzählige Kinder tummelten sich auf der Straße, überall Lärm und Staub. Hier wurde gearbeitet, das merkte man. Ein anderer Ton herrschte als im Westen, rauer und männlicher. Nirgends Eleganz. In den Geschäften nur die billigsten einfachsten Qualitäten. Wenn ich nach meinem Hotel zurückfuhr, war ich wieder in einer anderen Welt.

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Quelle: Jüdisches Leben in Deutschland, Dritter Band: Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte 1918-1945, hrsg. und eingeleitet von Monika Richarz. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1982, S. 159-60.

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