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Hilde Walter, „Die Misere des neuen Mittelstandes” (1929)

Hilde Walter (1895-1976) war bis 1918 als Sozialarbeiterin tätig und arbeitete nach dem Ersten Weltkrieg als Journalistin in Berlin. In diesem Artikel für Die Weltbühne beschreibt sie die soziale Lage der Angestellten und Beamten, deren Anzahl in der Weimarer Republik stetig stieg. Hierbei deckt sie die Diskrepanz zwischen der politischen Idealvorstellung dieser Gehaltsempfänger als „neuer Mittelschicht“ und deren bedenklicher wirtschaftlicher Realität auf.

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Die Misere des ‚neuen Mittelstandes‘


Nach der Berufszählung von 1925 hat sich die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland gegenüber dem Jahre 1907 um 28,5 Prozent erhöht, sie ist doppelt so stark gewachsen wie die Bevölkerung, die in der gleichen Zeit nur um 13,5 Prozent zugenommen hat. Die sozialen und wirtschaftlichen Ursachen für diese Verschiebung sind bekannt, dagegen ist es wichtig, sich darüber klar zu werden, welche Berufe an der absoluten und prozentualen Zunahme der erwerbstätigen Bevölkerung am stärksten beteiligt waren. Der Allgemeine freie Angestelltenbund veröffentlichte zu seinem Kongreß im Herbst vorigen Jahres zwei Bücher, die für diese Fragen von außerordentlicher Bedeutung sind: Ein Geschichts- und Handbuch der Wirtschafts-, Sozial- und Gewerkschaftspolitik, „Die Angestelltenbewegung 1925—1928“ und eine Broschüre mit einer Fülle interessanten Zahlenmaterials, „Die Angestellten in der Wirtschaft“.

Aus der im Statistischen Reichsamt bearbeiteten Berufszählung hätte man ohne die schwierigen Sondererhebungen des „Afa“-Bundes die soziale Schichtung der Berufstätigen nicht genau genug erkennen können, da die amtliche Statistik Angestellte und Beamte zusammenfaßt. Der Afa-Bund hat die Aussonderung der Angestellten mit Hilfe und Zustimmung der amtlichen Stellen vorgenommen, so daß man das in den beiden Büchern veröffentlichte Zahlenmaterial durchaus als die gegenwärtig beste Unterlage für diese Fragen betrachten kann. Selbstverständlich wird das Hauptkontingent der Erwerbstätigen von der Arbeiterschaft gestellt. Zählt man die Hausangestellten dazu, so umfaßt die Arbeiterschaft nach der Zählung von 1927 49,2 Prozent, also ziemlich genau die Hälfte, während die Angestellten (ausschließlich der Beamten) nur 11,2 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung darstellen. Diese Prozentverhältnisse beziehen sich, wie gesagt, auf die gesamte erwerbstätige Bevölkerung überhaupt, also einschließlich der Unternehmer, der Selbständigen und ihrer mithelfenden Familienangehörigen. Das Bild verschiebt sich stark, wenn man die Verteilung nur innerhalb der Arbeitnehmerberufe betrachtet. Im Jahre 1925 stellten die Arbeiter einschließlich der Hausgewerbetreibenden und Hausangestellten 76 Prozent, die Angestellten ausschließlich der leitenden 17 Prozent, die Beamten ausschließlich der leitenden 7 Prozent der gesamten Arbeitnehmerschaft. Die soziale Gliederung der Erwerbstätigen wurde auch nach den Zählungsjahren 1892, 1895, 1907 und 1925 festgestellt, und die Entwicklungslinie zeigt ein stetiges Wachsen der Gruppe Angestellte und Beamte auf Kosten der Selbständigen und ihrer mithelfenden Familienangehörigen einerseits, und der Gruppe Arbeiter und Hausangestellte andrerseits. Allein für die Zeitspanne 1907 bis 1925 ist das Heer der Angestellten (ausschließlich der Beamten) auf mehr als das Doppelte angewachsen, während die Zahl der Arbeiter im gleichen Zeitraum nur um 22 Prozent gestiegen ist. Die Ursache dieses Vordringens der Angestellten ist nicht nur das Eintreten bisher berufsfremder Elemente in den Arbeitsprozeß, die häufig grade ins Angestelltenverhältnis kommen; es sind auch Strukturwandlungen der Wirtschaft selbst, gewisse Formen der Rationalisierung und die in allen Ländern wachsende Vergrößerung des Verteilungsapparates, die diese Entwicklung hervorgerufen haben. Gewerkschaftler nennen das häufig „eine Umschichtung des Proletariats von großer sozialer Bedeutung“, während die bürgerlichen Parteien aller Schattierungen mit besonderer Vorliebe den „neuen Mittelstand“ proklamieren. Leider sind die Apostel des neuen Mittelstandes nicht in der Lage, den Trägern dieses verlockenden Titels auch nur einen Bruchteil der wirtschaftlichen Basis zu liefern, die seinerzeit als unentbehrliches Merkmal des alten Mittelstandes galt, der zahlenmäßig sehr beträchtlich war und jetzt zum größten Teil untergegangen ist.

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