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Kaiserin Maria Theresia über den Charakter Josephs II., ihres Sohnes und Mitregenten (14. September 1776)

In diesem Brief, ursprünglich auf Französisch verfasst, bringt Kaiserin Maria Theresia ihr Missfallen zum Ausdruck über Josephs arrogantes und verletzendes Verhalten gegenüber einigen ihrer getreuesten und hochrangigsten Beamten, darunter dem Kanzler und Außenminister Wenzel Anton Kaunitz-Rietberg. Das Schreiben veranschaulicht ihre politische Klugheit, christliche Sensibilität und mütterliche Liebe. Joseph antwortete auf entschuldigende und versöhnliche Weise, lernte jedoch nie, andere mit Geschick und Respekt zu behandeln.

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Schönbrunn, 14. September 1766


Monsieur Mon Cher Fils

[ . . . ] Ich kann nicht mit Stillschweigen übergehen, was Du mir da von Ayasas sagst. Seitdem ich ihn kenne, habe ich nie an ihm eine so große Selbstsucht oder Herzlosigkeit wahrgenommen, daß er jemandem aus Eigenliebe schaden könnte. Ich kenne ihn als ernsten, strengen, aber geraden und eifrigen Mann ohne Ränkesucht. Warum ihn also von der schlechten Seite betrachten und sofort verdammen? Ich fürchte sehr, daß Du bei der sehr übeln Meinung, die Du im allgemeinen von den Menschen hegst, auch noch diese kleine Zahl anständiger Leute verlierst, wenn Du sie mit den anderen vermengst und zusammenwirfst. Das ist ein sehr wesentlicher Punkt. Denn wer redlich denkt, wird sich nicht verdächtigen und mit den anderen zusammenwerfen lassen; er wird sich eher zurückziehen, wenn möglich, oder er wird mit geringerem Eifer dienen. Die große Triebkraft ist das Vertrauen. Fehlt dieses, dann fehlt alles.

Dasselbe gilt von der S. Remo-Frage. Ich muß Dir offen bekennen, die deutsche Note war in einer Art abgefaßt, daß ich mich Deinetwegen gekränkt habe, wie Du so denken und in frostiger Behandlung und spöttischer Erniedrigung der Mitmenschen Befriedigung finden kannst. Ich muß Dir sagen, das ist das gerade Gegenteil dessen, was ich mein ganzes Leben lang getan habe. Ich habe lieber durch gute Worte die Leute zur Ausführung meiner Absichten gebracht, mehr durch Überredung als durch Zwang. Ich habe mich dabei wohl befunden und wünsche Dir, Du mögest in Deinen Staaten und bei den Untertanen ebenso tatkräftige Unterstützung finden, wie ich sie gefunden habe. [ . . . ]

[Maria Theresia führt im folgenden Abschnitt konkrete Beispiele an, auf welche Art und Weise Joseph einige Minister persönlich verletzt hatte, und fährt fort:]

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