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Europa als Wertegemeinschaft (28. Dezember 2005)

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Die Zwillingsschwester der föderalistischen Illusion war die postnationale Illusion. Die Deutschen hatten ihren ersten, von Bismarck gegründeten Nationalstaat selbst zerstört: Daran gab es seit 1945 nichts mehr zu deuteln. Aber schon wenig später begannen deutsche Politiker und Publizisten, aus der Not eine Tugend zu machen. Zunächst, in der Ära Adenauer, waren es katholische Konservative, die unter Berufung auf das übernationale Heilige Römische Reich deutscher Nation eine supranationale Sendung der Deutschen behaupteten. 1956 zitierte der Bonner Redakteur des Rheinischen Merkur, Paul Wilhelm Wenger, in der Zeitschrift Neues Abendland beziehungsreich ein Wort von Friedrich Gentz, dem späteren Sekretär des österreichischen Staatskanzlers Fürst Metternich, aus dem Jahr 1806, dem Jahr des Untergangs des Alten Reiches: „Europa ist durch Deutschland gefallen, durch Deutschland muß es wieder emporsteigen.“ Wengers Lehre aus der Geschichte lautete: Föderalismus statt Nationalstaat. In der inneren Föderalisierung Deutschlands sah er die „Voraussetzung für die einzig mögliche Lösung der deutschen Frage durch föderalistische Verflechtung Deutschlands mit allen seinen Nachbarn“.

In den folgenden Jahrzehnten wanderte der Gedanke einer deutschen Alternative zum Nationalstaat allmählich von rechts über die Mitte nach links. 1976 nannte der Bonner Zeithistoriker Karl Dietrich Bracher die Bundesrepublik erstmals eine „postnationale Demokratie unter Nationalstaaten“ – ein Begriff, der Karriere machte, als ihn der Autor 1986 im fünften Band der „Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ wiederholte.

Zwei Jahre später verkündete Oskar Lafontaine, damals Ministerpräsident des Saarlandes und stellvertretender Vorsitzender der SPD, in seinem Buch „Die Gesellschaft der Zukunft“, gerade weil die Deutschen „mit einem pervertierten Nationalismus schlechteste Erfahrungen“ gemacht hätten, seien sie „geradezu prädestiniert, eine treibende Rolle im Prozeß der supranationalen Vereinigung Europas zu übernehmen“.

Prädestination kraft Perversion: Außerhalb der Bundesrepublik war kaum jemand geneigt, dieser kühnen dialektischen Volte, einer Abwandlung der frühchristlichen Lehre von der „felix culpa“, der heilbringenden Schuld, Beifall zu spenden. Der Gedanke, die Nationalstaaten in Europa aufgehen zu lassen und ein postnationales Zeitalter auszurufen, war in der Tat ebenso unpolitisch wie unhistorisch. „Daß es Nationen gibt, ist historisch das Europäische an Europa“, hat der Historiker Hermann Heimpel einmal bemerkt. Vielleicht sollte man besser sagen: Die Vielfalt der Nationen ist eines der wichtigsten Merkmale Europas. Folglich kann es auch nicht das Ziel der Europäischen Union sein, die Nationen zu überwinden. Sie kann sie nur überwölben.

Der europäische Verfassungsvertrag war als Mittel der Vertiefung des Einigungsprozesses gedacht. Das Mittel steht nicht mehr zur Verfügung, doch der Zweck bleibt. Was immer an die Stelle des Vertrages treten wird, die Vertiefung verlangt sehr viel mehr als nur effektivere Institutionen und transparentere Entwicklungsprozesse. Vertiefung ist nur zu erreichen, wenn die Europäer ein klares Bewußtsein dessen entwickeln, woran sie anknüpfen können und wovon sie sich lösen müssen. Es gibt gemeinsame Erfahrungen und Prägungen, die viel weiter in die Geschichte zurückreichen, als den meisten Europäern und vielen ihrer Politiker bewußt ist. Das Projekt Europa wird nur dann eine Zukunft haben, wenn es sich auf ein „Wir-Gefühl“ stützen kann: ein Bewußtsein von Zusammengehörigkeit und Solidarität.

Eine Politische Union, die in wichtigen Fragen möglichst mit einer Stimme sprechen will, müßte ernst machen mit der immer wieder feierlich beschworenen Maxime, die EU sei mehr als ein Zweckverband, nämlich eine Wertegemeinschaft. Eine Europäische Union, die Politische Union sein will, müßte die Frage beantworten, die sich aus der Selbstbeschreibung als Wertegemeinschaft zwingend ergibt: Welche Werte vertritt die EU? Sind es europäische, westliche oder universale Werte?

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