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Leopold von Ranke: Auszüge aus seinen Schriften (1824-1881)

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Auch historisch sind diese Ansichten nicht nachweisbar. Denn fürs erste findet sich der größte Teil der Menschheit noch im Urzustande, im Ausgangspunkt selbst. Und dann fragt es sich: was ist Fortschritt? Wo ist der Fortschritt der Menschheit zu bemerken? — Es gibt Elemente der großen historischen Entwickelung, die sich in der römischen und germanischen Nation fixiert haben. Hier gibt es allerdings eine von Stufe zu Stufe sich entwickelnde geistige Macht. Es ist in der ganzen Geschichte eine gleichsam historische Macht des menschlichen Geistes nicht zu verkennen. Das ist eine in der Urzeit gegründete Bewegung, die sich mit einer gewissen Stetigkeit fortsetzt. Allein, es gibt in der Menschheit doch nur ein System von Bevölkerungen, welche an der allgemein historischen Bewegung teilnehmen, und andere, die davon ausgeschlossen sind. Wir können aber im allgemeinen die in der historischen Bewegung begriffenen Nationalitäten nicht als im stetigen Fortschritt befindlich ansehen.

Wenden wir zum Beispiel unser Augenmerk auf Asien, so sehen wir, daß dort die Kultur entsprungen ist und daß dieser Weltteil mehrere Kulturepochen gehabt hat. Allein, dort ist die Bewegung eine mehr rückgängige gewesen. Denn die älteste Epoche der asiatischen Kultur war die blühendste, die zweite und dritte Epoche aber, in welcher das griechische und römische Element dominierte, war schon nicht mehr so bedeutend, und mit dem Einbrechen der Barbaren (Mongolen) fand die Kultur in Asien vollends ein Ende. Geographisch kann also dieser Begriff nicht festgestellt werden, und ich muß mich von vornherein dagegen erklären, wenn man behauptet, wie zum Beispiel Peter der Große, die Kultur mache die Runde um den Erdball, sie sei vom Osten gekommen und kehre dahin wieder zurück.

Fürs zweite ist hierbei ein anderer Irrtum zu vermeiden, nämlich der, als ob die fortschreitende Entwickelung der Jahrhunderte zu gleicher Zeit alle Zweige des menschlichen Wissens und Könnens umfaßte. Die Geschichte zeigt uns, um beispielsweise nur ein Moment hervorzuheben, daß in der neueren Zeit die Kunst im 15. und in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts am meisten geblüht hat; dagegen ist sie aber am Ende des 17. und in den ersten drei Vierteln des 18. Jahrhunderts am meisten heruntergekommen. Geradeso verhält es sich mit der Poesie. Auch hier sind es nur Momente, wo diese Kunst wirklich hervortritt. Es zeigt sich aber nicht, daß sich dieselbe im Laufe der Jahrhunderte zu einer höheren Potenz steigert.

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