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1.A. Staatenbund oder Nationalstaat?
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1. Staat und Regierung   |   1.A. Staatenbund oder Nationalstaat?   |   1.B. Autoritäre Herrschaft oder Verfassungsstaat?   |   1.C. Emanzipation der Juden   |   2. Parteien und Organisationen   |   3. Militär und Krieg   |   4. Wirtschaft und Arbeit   |   5. Natur und Umwelt   |   6. Geschlecht, Familie, und Generationen   |   7. Regionen, Städte, Landschaften   |   8. Religion   |   9. Literatur, Kunst, Musik   |   10. Die Kultur der Eliten und des Volkes   |   11. Wissenschaft und Bildung

1862 gründeten die „Großdeutschen“, die Befürworter eines deutschen Nationalstaats unter Einschluss der deutschen Bevölkerung des Habsburgerreiches, eine eigene Vereinigung, den Deutschen Reformverein, um ihre Vorstellung von einem geeinten Deutschland zu propagieren. Vergleicht man ihre Gründungserklärung mit dem Gründungsaufruf des konkurrierenden Deutschen Nationalvereins, so wird deutlich, dass die „Großdeutschen“ den Deutschen Bund günstiger beurteilten.

Ein wichtiges Motiv für die „Großdeutschen“ waren religiöse und konfessionelle Konflikte. Die große Mehrheit der Einwohner des österreichischen Kaiserreiches war römisch-katholisch, und Österreich war seit jeher die katholische Großmacht in Mitteleuropa gewesen, im Gegensatz zum vorwiegend protestantischen Preußen. Bei einem Ausschluss der österreichischen Katholiken von einem geeinten kleindeutschen Nationalstaat (wozu es 1866 schließlich kam), hätten die Katholiken in Deutschland auf Dauer eine religiöse Minderheit gebildet. Die Erklärung des Katholikentags vom September 1862, der jährlichen Versammlung römisch-katholischer Vereine, Organisationen und Gesellschaften Mitteleuropas, macht sehr deutlich, dass die deutschen Katholiken die Entscheidung zwischen „Kleindeutschland“ und einem größeren deutschen Nationalstaat mit den Bedrohungen in Verbindung brachten, denen die katholische Kirche in ganz Europa ausgesetzt war.

Die österreichische Regierung unternahm Anfang der 1860er-Jahre eine diplomatische Initiative, um bei den Regierungen und der Bevölkerung der vielen deutschen Einzelstaaten um Unterstützung für ihre Haltung sowohl gegenüber Preußen als auch gegenüber der kleindeutschen Nationalbewegung zu werben. Teil dieser diplomatischen Initiative war der Vorschlag für eine Reform des Deutschen Bundes vom Juli 1863. Trotz aller Bekundungen deutschen Nationalbewusstseins zeigt der Vorschlag doch die erheblichen Schwierigkeiten, die das multinationale Habsburgerreich mit der Idee eines deutschen Nationalstaates hatte.

Das letzte Dokument dieses Abschnittes ist die berühmte „Blut und Eisen“-Rede des preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck, die er vor der Budgetkommission des preußischen Abgeordnetenhauses am 30. September 1862 hielt. Zu diesem Zeitpunkt verweigerte die liberale Mehrheit im Landtag die Verabschiedung des von der Regierung eingebrachten Militärhaushaltes. Durch seine Verurteilung des Vorgehens der liberalen Abgeordneten, darunter vieler Angehöriger des Nationalvereins, stellte Bismarck klar, dass er die Schaffung eines kleindeutschen Staates unter der Vorherrschaft Preußens befürwortete, wenngleich nicht eines liberalen und reformierten Preußens, wie es der Nationalverein forderte. Im Grunde sprach er sich weniger für einen kleindeutschen Staat aus, als vielmehr für die Schaffung eines größeren Preußen, wozu es nach dem Krieg von 1866 tatsächlich kommen sollte.

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