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3. Die Rekonstituierung der deutschen Gesellschaft
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Überblick   |   1. Die Lage im Jahre 1945   |   2. Wirtschaft und Politik in den beiden deutschen Staaten   |   3. Die Rekonstituierung der deutschen Gesellschaft   |   4. Kultur   |   Empfehlungen zur weiterführenden deutschen Literatur   |   Empfehlungen zur weiterführenden englischen Literatur

Der gesellschaftliche Wiederaufbau in Nachkriegsdeutschland ging über die Sphären von Familie und Gemeinschaft hinaus und schloss breiter angelegte Anstrengungen zur Verarbeitung der NS-Vergangenheit mit ein. Die Tatsache, dass diese Anstrengungen sich in Ost und West stark unterschieden, ist in großem Maß auf den Kalten Krieg zurückzuführen. In seiner Eigenschaft als sozialistischer Staat betrachtete sich Ostdeutschland als ex definitionem antifaschistisch. Insofern konnte es – zumindest der Ansicht der ostdeutschen Führungsriege nach – nicht als Nachfolgestaat des Deutschen Reiches unter Hitler gesehen werden. Dieser Titel wurde nur zu gern Westdeutschland überlassen. Die dortige politische Führung schlug bei der Vergangenheitsbewältigung einen anderen Weg ein und verpflichtete ihren Staat zu Maßnahmen der „Wiedergutmachung“. So wurden von der Bundesrepublik in den 1950er Jahren beispielsweise Reparationszahlungen an Israel geleistet und am 29. Juni 1956 das Bundesentschädigungsgesetz verabschiedet. Das Gesetz schuf die Grundlage für Entschädigungszahlungen an Einwohner Westdeutschlands, die von den Nationalsozialisten aus rassistischen oder politischen Gründen verfolgt worden waren. Die Durchführung dieser Maßnahmen wurde jedoch häufig von bürokratischer Trägheit behindert. Zudem berücksichtigten sie eine ganze Bandbreite von Menschen nicht, die im Dritten Reich verfolgt oder misshandelt worden waren, wie ausländische Zwangsarbeiter, Sinti und Roma, Homosexuelle und sog. „Asoziale“.

In der DDR wurde die Kollektivierungs- und Verstaatlichungspolitik, von der behauptet wurde, sie merze den Nationalsozialismus aus und schaffe soziale Gerechtigkeit, zunächst von der sowjetischen Besatzungsmacht ausgeführt und später von der ostdeutschen politischen Führung. Die Bundesrepublik verfolgte eine umstrittene, Jahrzehnte andauernde Politik des „Lastenausgleichs“ mit dem Ziel, ein Gleichgewicht zwischen denjenigen Deutschen zu schaffen, denen ihr Besitz geblieben war und denen, die als Folge des Krieges Eigentum verloren hatten, was auch die Vertriebenen einschloss. Die Zahlungen in diesen Topf liefen letztlich auf eine langfristige Besteuerung der Besitzstände hinaus und obwohl sie anfangs als Belastung empfunden wurden, waren sie doch so konzipiert, dass sie das Grundkapital nicht berührten. Kritiker des Gesetzes wiesen darauf hin, dass auch ehemalige Nazis von den Zahlungen profitieren konnten, die von der Regierung an diejenigen geleistet wurden, die während des Krieges Eigentum verloren hatten.

Zeitgenössische westdeutsche Soziologen wie Helmut Schelsky stellten bei ihrer Untersuchung der Gesellschaft eine Verminderung der Klassenunterschiede fest, welche sowohl dem kriegsbedingten Eigentumsverlust als auch dem Wohlstand der Nachkriegszeit zugeschrieben wurde. Solche Feststellungen mögen überzogen erscheinen, insbesondere, da im Hinblick auf Wohlstand und Bildungsniveau auch weiterhin beträchtliche Unterschiede bestanden. Dennoch veränderten sich die Klassenunterschiede in Deutschland tatsächlich. So wurde es beispielsweise für männliche Arbeitnehmer zunehmend üblich, ein „Familieneinkommen“ zu verdienen (d.h. ein Einkommen, von dem sie eine Frau und Kinder ernähren konnten). In ihrem Godesberger Programm von 1959 wandte sich die SPD – die Partei mit den engsten Bindungen an die Gewerkschaften, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts für das Familieneinkommen gekämpft hatten – von jeglicher Verstaatlichung der Industrie ab und akzeptierte stattdessen den Kapitalismus als wirtschaftliche Rahmenbedingung. Mit der stärkeren Teilhabe der Arbeiterschaft an der Konsumgesellschaft verloren die Arbeitervereinigungen an Bedeutung. Zudem begannen sich die Beschäftigungsmuster von gewerblicher Arbeit und Landwirtschaft in Richtung Dienstleistungssektor und Beamtentum zu verschieben. Während ein großer Teil des Bürgertums gegenüber der „Massengesellschaft“ und „Massenkultur“ äußerst pessimistisch blieb, folgten die Geschäftsleute ihren amerikanischen Kollegen und akzeptierten sowohl Wettbewerb als auch Massenproduktion und -konsum.



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