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V. Rassenpolitik
Druckfassung

Überblick   |   I. Aufbau des NS-Regimes   |   II. Der NS-Staat   |   III. SS und Polizei   |   IV. Der organisierte Widerstand   |   V. Rassenpolitik   |   VI. Militär, Außenpolitik und Krieg   |   VII. Arbeit und Wirtschaft   |   VIII. Geschlechterrollen, Familie und Generationen   |   IX. Religion   |   X. Literatur, Kunst und Musik   |   XI. Propaganda und die Öffentlichkeit   |   XII. Region, Stadt und Land   |   XIII. Wissenschaft

Während einer langen Reichstagsrede am 30. Januar 1939 (dem sechsten Jahrestag seiner Machtübernahme) stellte Hitler ebenfalls Verbindungen zwischen dem bevorstehenden Krieg und der Vernichtung der Juden her. Die Historiker haben eine Schlüsselpassage – Hitlers „Prophezeiung“, dass ein Krieg die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa zur Folge haben würde – auf sehr verschiedene Weise interpretiert. Waren seine Worte beispielsweise darauf gerichtet, westliche Länder unter Druck zu setzen, deutsche Juden immigrieren zu lassen? Oder sollten sie vorhersagen, was geschehen könne, falls alle potenziellen Feinde Deutschlands sich gegen es verbünden würden? Indem er jede Anstrengung unternahm, um die Juden für einen Krieg verantwortlich zu machen, der noch nicht einmal begonnen hatte, schien Hitler anzudeuten, dass Nazi-Deutschland in einer zukünftigen Kriegssituation keinerlei Zurückhaltung ihnen gegenüber üben würde. Seine Rede könnte ebenfalls ein Signal für die SS-Führung gewesen sein, mit der Planung für die radikalste Entwicklung zu beginnen.

Wie reagierte die Außenwelt auf die Bemühungen der Nazis, die deutschen Juden zu vertreiben? Ungefähr sechs Monate zuvor, im Juli 1938, hielten Vertreter von 32 Nationen auf Geheiß des US-Präsidenten Franklin Delano Roosevelt eine Sonderkonferenz im französischen Evian ab. Keine der Nationen war bereit, direkt mit Deutschland zu verhandeln oder mehr jüdische Flüchtlinge aufzunehmen, als sie es bereits unter bestehenden Gesetzen und Maßnahmen taten. Stattdessen gründeten sie das Intergovernmental Committee on Political Refugees (IGC), das damit beauftragt wurde, irgendeine geordnete Vorgehensweise zur Emigration oder Umsiedlung deutscher Juden, die das Land verlassen wollten, zu entwickeln.

Raymond H. Geist, der amerikanische Konsul in Berlin, war direkt in die amerikanischen und internationalen Bemühungen, die Situation der Juden in Deutschland zu verbessern, involviert. Geist versuchte, die Arbeit des ICG zu erleichtern, indem er ein Treffen zwischen dessen Vorsitzendem, dem amerikanischen Anwalt für internationales Recht George Rublee und deutschen Regierungsbeamten arrangierte. Geists Bemühungen lösten einen irreführenden Zeitungsbericht eines Reporters der Jewish Telegraph Agency namens Bernstein aus. Im April 1939 schrieb Geist an seinen früheren Vorgesetzten in Berlin, George S. Messersmith (der inzwischen zum stellvertretenden Außenminister ernannt worden war), um falsche Zitate des Artikels zu korrigieren und eine allgemeine Einschätzung der den deutschen Juden offenstehenden Möglichkeiten zu geben. Geist beobachtete richtig, dass die Frage der jüdischen Emigration innerhalb des NS-Regimes auf gemischte Gefühle stieß. Am Ende seines Schreibens bezieht Geist sich auf vertrauliche Quellen innerhalb der SS, um Voraussagen über das Schicksal der in Deutschland verbliebenen Juden im Fall eines Krieges zu machen. Geists Schreiben deutet an, dass der Genozid schon vor Kriegsbeginn Bestandteil der NS-Agenda war.

Die NS-Behörden schritten in ihrem Vorgehen gegen die Juden wegen möglicher Reaktionen der nicht-jüdischen Freunde und Nachbarn der Verfolgten vorsichtig voran. Das groß angelegte Massaker begann nicht mit deutschen Juden, sondern vielmehr mit denen in den von den Nazis besetzten Gebieten. Es gab jedoch ein Programm des Massenmords innerhalb Deutschlands, das bereits früh begonnen wurde: Das sogenannte „Euthanasie“-Programm wurde mehr oder weniger gleichzeitig mit dem Krieg begonnen. Menschen, die vormals unter das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (14. Juli 1933) gefallen waren, wurden nun zu Mordopfern.

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