Als ich nach Berlin kam, wusste ich auch, dass Berlin die Stadt ohne Polizeistunde ist und die Stadt mit der höchsten Selbstmordziffer in der Welt. Jetzt weiß ich außerdem, dass es immer noch eine ganze Menge Lokale in Berlin gibt, die ich bis heute nicht zu sehen bekommen habe. Wahrscheinlich werde ich sie auch ne zu sehen bekommen, da ich hinreichend damit beschäftigt bin, die Pinten, die ich kenne, regelmäßig anzulaufen. Aber ich kann Ihnen die Schuppen nennen, in denen Sie immer Leute treffen, die all die anderen Schuppen kennen. Wenn es jetzt gerade Nachmittag ist, dann nimmt man am besten erst einmal an einem Trottoirtisch vor einem Kurfürstendamm-Café Platz. Das Berlin von früher – habe ich mir sagen lassen – war berühmt für seine Revuen in den Varietétheatern. Ich kann mir kaum vorstellen, dass die Show aufregender war, als die Girlparade, die nun an Ihrer Kaffeestunde vorbeidefiliert. Zweckmäßigerweise suchen Sie sich den Tisch vor dem Café Kranzler aus, der genau auf dem spitzen Winkel der linken Ecke steht. Dann haben Sie den vollen Genuss von allen Wuchtbrummern, die vom Bahnhof Zoo kommen und außerdem von den regulären Ku-Damm-Gängern. Sagen Sie nicht, Sie kennen das schon. Es ist soeben wieder ein neuer Jahrgang dazugekommen, die Röckchen wurden kürzer, die Blusen enger, der Kaffee hat den Preis behalten, also es lohnt sich. Noch ein Tip: Setzen Sie sich allein. Wenn Sie schon Gesellschaft vom gegenteiligen Geschlecht haben, dann hindert Sie das am vollen Genuss. Sie können sich dann nicht mehr so unbeschwert vorstellen, dass Sie jedes Objekt Ihres Dreißig-Sekunden-Interesses ein Stück den Ku-Damm rauf begleiten. Aber wenn sich jemand zu Ihnen setzt und Ihnen vorschlägt, mit ins „Old Vienna“, ins „Ricci“, die „Paris Bar“ oder in den „Eden Saloon“ zu gehen, dann akzeptieren Sie ruhig. Das „Old Vienna“ ist eins der wenigen Espresso in Berlin. Die große Espresso-Welle hat sich noch nicht ganz bis an Havel und Spree durchgefressen. Dies ist ein gebührenfreier Tip für unternehmungslustige Unternehmer. Im „Old Vienna“ war ich gleich am ersten Abend gelandet. Neben mir war gerade ein Filmmensch damit beschäftigt, die Starkarriere einer blusenbewussten Julia aufzubauen. Der Romeo stand derweil daneben und begann sich damit abzufinden, am weiteren Sternenflug seiner Party-Fee nur noch aus einem mittleren Sperrsitz teilzunehmen. Er tat gut daran, denn der Filmmensch nahm die Julia mit sich und ließ den Romeo mit trüben Gedanken und einer höheren Whiskyrechnung zurück. Julia tröstete ihn und vermutlich sich auch, mit dem Bemerken, dass es notwendig für ihre Zukunft sei. Gegen Morgen sah ich Julia bei einem einsamen Katerfrühstück im Bahnhofswartesaal wieder. Sie hatte verheulte Augen und einen Riss in der Bluse. Jetzt sah sie wirklich fotogen aus. Wie man sich bettet, so flach fällt manchmal die Zukunft.
Es muss ja nicht gleich Hollywood sein. Vielleicht genügt es Ihnen, im „Old Vienna“ Magen und Kehle für naheliegendere Ambitionen anzuheizen. Ein ansehnlicher Imbiss – wie zum Bespiel Spaghettiteller – ist hier um zwei Mark herum zu haben. Der Innenarchitekt hatte ein Herz für Schüchterne: Die Drehstühle an der Bar sind eng genug aneinander gebaut, um schon beim Aufsteigen Tuchfühlung mit den zukünftigen Viertelstunden-Nachbarn zu gewährleisten. Stille Genießer versenken sich in die Spiegel, akustisch Interessierte müssen sich mit dem Mithören beim Gespräch der Nachbarn nebenan begnügen, Musikbox Fehlanzeige.
Fünf Minuten frischen Eroberungen imponiert man gern mit Tapetenwechsel. Die Tapete im „Ricci“ eignet sich gut dazu. Das „Ricci“ besteht aus drei Teilen: Vor der Tür, hinter der Tür und über der Tür. Wenn Sie die Treppe hinaufgehen und im Ku-Damm-wärts gelegenen Café-Salon über der Tür sitzen, haben Sie hier prima Gelegenheit, Ihre übliche Einführungsmasche abzuschießen. Aber Vorsicht, wenn Se mit angeblichen Prominentenbekanntschaften prahlen. Die bringen es nämlich fertig und kommen rein. Dieser Tage traf ich den Freddy Quinn dort. Er spielte mit dem „Null-acht-Fünfzehn“-Carsten Huckepack. Ich fand es albern, aber immerhin besser, als wenn es gesungen hätte. So konnte ich noch gemütlich sitzenbleiben und mit der Bardame über französische Chansonsänger plaudern, die alle viel besser sind als de deutschen Schnulziers. Der Freddy Quinn hat trotzdem nicht mit mir Huckepack gemacht, woraus Sie ersehen können, dass im „Ricci“ ein toleranter Ton herrscht.