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Der Harrison-Bericht (September 1945)

Der Bericht des Juristen und Bürgerrechtlers Earl G. Harrison für den amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman vom Sommer 1945 zeichnet ein düsteres Bild der Lage der jüdischen und osteuropäischen Flüchtlinge und Vertriebenen in Deutschland und Österreich. Harrison kritisiert, daß sich die Lage der ehemaligen Insassen von Konzentrations- und Arbeitslagern unter den alliierten Befreiern noch kaum verbessert habe. Sie müßten häufig noch in den gleichen stacheldrahtumzäunten Lagern wie vorher leben. Lebensmittel, Kleidung, Medikamente und winterfeste Gebäude fehlten. Angemessene psychologische Betreuung sowie Bemühungen um Familienzusammenführung und Repatriierung gebe es kaum. Harrison kritisiert die alliierte Bürokratie und das Verhalten der Offiziere vor Ort, die mehr Wert auf legten, es sich nicht mit der deutschen Bevölkerung zu verderben als deren Opfern zu helfen. Angebote zur Mitarbeit von zivilen Hilfsstellen oder den Flüchtlingen selbst würden abgelehnt. Besonders verheerend sei die Situation der Juden. Harrison setzt sich energisch dafür ein, dem Wunsch vieler Überlebender der Vernichtungslager, nach Palästina auszuwandern, zu entsprechen und auch mehr Flüchtlinge in die USA einreisen zu lassen.

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Bericht von Earl G. Harrison

Reise nach Europa zur Erkundung der Lage und der Bedürfnisse derjenigen unter den Displaced Persons in den befreiten Ländern Westeuropas und im SHAEF-Gebiet (Supreme Headquarters, Allied Expeditionary Force) in Deutschland, die möglicherweise staatenlos oder nicht repatriierbar sind – unter besonderer Berücksichtung der jüdischen Flüchtlinge

London, England

An den
Präsidenten,
The White House,
Washington


MEIN LIEBER MR. PRESIDENT:

Gemäß Ihrem Briefes vom 22. Juni 1945 habe ich die Ehre, Ihnen hiermit einen Teilbericht über meine kürzlich erfolgte Reise nach Europa vorzulegen, auf der ich Informationen sammelte (1) zur gegenwärtigen Lebenslage der Displaced Persons und insbesondere derjenigen, die möglicherweise staatenlos oder nicht repatriierbar sind, vornehmlich in Deutschland und Österreich (2) zu den Bedürfnissen dieser Personen, (3) darüber, wie diese Bedürfnisse momentan durch die Militärbehörden, die Regierungen am Aufenthaltsort und internationale und private Hilfsorganisationen befriedigt werden sowie (4) zur Sicht der möglicherweise nicht repatriierbaren Personen im Hinblick auf ihre zukünftigen Ziele.

Meine Anweisung lautete, den Problemen, Bedürfnissen und Sichtweisen der jüdischen Flüchtlinge unter den Displaced Persons, vornehmlich in Deutschland und Österreich, besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Der Bericht, insbesondere dieser Teilbericht, bezieht sich dementsprechend in der Hauptsache auf diese Gruppe.

Bei zahlreichen Gelegenheiten wurde von den Opfern der Nazi-Verfolgung Dankbarkeit für das Interesse der US-Regierung zum Ausdruck gebracht. Wie mein Bericht zeigt, brauchen sie Aufmerksamkeit und Hilfe. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind sie eher in einem militärischen Sinne als tatsächlich „befreit“ worden. Aus Gründen, die im Bericht dargelegt werden, ist ihren spezifischen Problemen bis jetzt keine Aufmerksamkeit in nennenswertem Umfang entgegengebracht worden. Folglich meinen sie, dass sie, die auf so vielfältige Weise die ersten und ärgsten Opfer der Nazis waren, von ihren Befreiern vernachlässigt werden.

Auf mein Gesuch hin erteilte das Department of State Dr. Joseph J. Schwartz die Genehmigung, an meiner Mission teilzunehmen. Dr. Schwartz, dem European Director of the American Joint Distribution Committee, wurde eine Freistellung von dieser Organisation gewährt, damit er mich begleiten konnte. Seine lange und vielfältige Erfahrung mit Flüchtlingsproblemen sowie seine Vertrautheit mit dem Kontinent und seinen Bewohnern machten Dr. Schwartz zu einem äußerst wertvollen Begleiter. Dieser Bericht stellt unsere gemeinsamen Ansichten, Schlussfolgerungen und Empfehlungen dar.

Während verschiedener Etappen der Reise konnte ich auch auf die Hilfe von Mr. Patrick M. Malin, Vice Director of the Intergovernmental Committee on Refugees und von Mr. Herbert Katzski vom War Refugee Board zurückgreifen. Diese beiden Männer haben ebenfalls eine beträchtliche Erfahrung in Flüchtlingsangelegenheiten vorzuweisen. Ihre Hilfe und ihre Mitarbeit waren im Verlauf der Untersuchung äußerst hilfreich.

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