GHDI logo


Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Auszüge aus Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817)

Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831), der bedeutendste Vertreter des deutschen Idealismus, postulierte eine umfassende Theorie von der Einheit des systematischen Wissens. In seiner Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817), von der hier Auszüge folgen, fasst er gleichsam diesen Ansatz zusammen, behandelt seine Lehre von Geschichte als dialektischem Fortschreiten des philosophischen Freiheitsgedankens und definiert die übergeordnete Stellung der Königsdisziplin Philosophie gegenüber den empirischen Wissenschaften.

Druckfassung     Dokumenten-Liste letztes Dokument im vorherigen Kapitel      nächstes Dokument

Seite 1 von 19


EINLEITUNG.

§. 1.
Alle andern Wissenschaften, als die Philosophie haben solche Gegenstände, die als unmittelbar von der Vorstellung zugegeben, daher auch im Anfange der Wissenschaft als angenommen vorausgesetzt werden, so wie auch die im weitern Fortgang für erforderlich gehaltenen Bestimmungen aus der Vorstellung aufgenommen werden.

Eine solche Wissenschaft hat sich über die Nothwendigkeit des Gegenstandes selbst, den sie behandelt, nicht zu rechtfertigen; der Mathematik überhaupt, der Geometrie, der Arithmetik, der Rechtswissenschaft, Medicin, Zoologie, Botanik u.s.f. ist es zugestanden, vorauszusetzen, daß es eine Größe, Raum, Zahl, ein Recht, Krankheiten, Thiere, Pflanzen u.s.f. gibt, d. h. sie sind von der Vorstellung als vorhandene angenommen; man läßt sich nicht einfallen, an dem Seyn solcher Gegenstände zu zweifeln, und zu verlangen, daß aus dem Begriffe erwiesen werde, daß es an und für sich eine Größe, Raum, u.s.f. Krankheit, das Thier, Pflanze geben müsse. – Von einem solchen Gegenstande wird zuerst der bekannte Nahmen genannt. Dieser ist das Feste, gibt aber zunächst nur die Vorstellung der Sache. Es sollen aber auch weitere Bestimmungen von derselben angegeben werden. Sie können zwar gleichfalls aus der unmittelbaren Vorstellung aufgenommen werden. Hier thut sich jedoch leicht schon die Schwierigkeit hervor, daß solche aufgefaßt werden, von denen eben so unmittelbar zugegeben werde, daß sie in dem Gegenstande vorhanden, ingleichen daß sie die wesentlichen seyen. Was das Formelle daran betrifft, so ist dafür die Logik, die Lehre von den Definitionen, Eintheilungen u.s.f. vorausgesetzt; was aber den Inhalt betrifft, so ist gestattet, dabey auf eine empirische Weise zu verfahren, um bey sich und andern zu suchen, was für dergleichen Merkmahle factisch in der Vorstellung des allgemeinen Gegenstandes vorgefunden werde; welches Factum dann schon etwas sehr dem Streite unterworfenes seyn kann.

§. 2.
Der Anfang der Philosophie hat hingegen das Unbequeme, daß schon ihr Gegenstand, sogleich dem Zweifel und Streite nothwendig unterworfen ist, 1) seinem Gehalte nach, da er, wenn er nicht bloß [als Gegenstand] der Vorstellung, sondern als Gegenstand der Philosophie angegeben werden soll, in der Vorstellung nicht angetroffen wird, ja der Erkenntnißweise nach ihr entgegengesetzt ist, und das Vorstellen durch die Philosophie vielmehr über sich hinaus gebracht werden soll.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite