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Die Autorin Daniela Dahn verkündet ein neues ostdeutsches Selbstbewusstsein (21. September 1996)

Mit viel Bitterkeit kommentiert die Autorin Daniela Dahn die Enttäuschungen der Vereinigung (die den industriellen Zusammenbruch und die westliche Kulturdominanz mit sich brachte) und verweist auf ein neues Selbstbewusstsein in Ostdeutschland, das aus der schwierigen Übergangserfahrung und der auch den Westen bedrohenden Globalisierungskrise erwachse.

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Ost und West missverstehen sich
Liegt es am Geld? An mangelnder Geduld? Oder ist der Osten zu selbstbewusst?


Das Grundmissverständnis zwischen Ost und West besteht darin, dass eine Seite denkt, sie gibt ihr Letztes, während die andere meint, man nähme ihr das Letzte. Die Westdeutschen zahlen Solibeitrag und müssen schrecklich sparen; die Ostdeutschen zahlen ihn auch und haben obendrein durch die überstürzte Währungsunion und die Westinteressen vertretende Treuhandpolitik Millionen von Arbeitsplätzen in Industrie und Landwirtschaft verloren.

Ein Abbau von Arbeitsplätzen war unter dem gewachsenen Effektivitätsdruck nötig, aber diese Dimension einer siebzigprozentigen Deindustrialisierung hat es nach der Wende in ganz Osteuropa nicht gegeben. Die Entwertung bisheriger Leistung hat natürlich auch psychische Folgen – ganz zu schweigen von dem durch den Gesetzgeber organisierten Ost-West-Immobilienkrieg („Rückgabe vor Entschädigung“), der millionenfachen Frust hinterlässt und der obendrein die Steuerzahler teuer zu stehen kommt.

Die Legende, dass es zu dieser für die Bevölkerung auf beiden Seiten teuersten Art der Vereinigung keine Alternative gab, pflegen in erster Linie jene westlichen Minderheiten, die sich an der Einheit dumm und dämlich verdient haben: Banken und Industrielle, Versicherungen, Immobilienhändler, Anwälte und Notare. Und ihre treuen Diener: gewisse Politiker und Journalisten. Wer glaubt, in solchen Erklärungsmustern schon wieder östliche Verschwörungstheorien zu erkennen, muss daran erinnert werden, dass die repräsentative Demokratie eine Gesellschaft institutionalisierter Interessenvertretung ist.

Wer sich am besten organisiert, setzt am meisten Interessen durch. Die Ostinteressen waren wahrlich schlecht organisiert. Gerade in unübersichtlichen Umbruchzeiten läuft die Demokratie Gefahr, von Lobbyinteressen dominiert zu werden. Chancengleichheit ist dann für lange Zeit blockiert.

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