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Die deutsche Kronprinzessin Victoria kritisiert Bismarcks persönliches Regiment als diktatorisch (1887-89)

Die deutsche Kronprinzessin Victoria war die Tochter der britischen Queen Victoria und verheiratet mit dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm (1831-1888), der als Kaiser Friedrich III. nur 99 Tage lang regierte, bevor er am 15. Juni 1888 an Kehlkopfkrebs starb. Als Friedrich im März 1888 den Thron bestieg, war er nicht in der Lage, bedeutende Reformen durchzuführen, nicht nur aufgrund seiner Krankheit, sondern auch wegen des wirkungsvollen Netzwerks, das Bismarck geschaffen hatte, um seine Macht nach dem Tod Kaiser Wilhelms I. zu behalten. In diesen Briefen kommentiert Victoria Bismarcks Allmacht und was diese Deutschland bereits gekostet habe. Sie bewundert zwar Bismarcks erhebliche Fähigkeiten auf diplomatischem Gebiet, glaubt jedoch, dass er das politische Leben der Nation korrumpiert habe. Die folgenden Textpassagen aus Victorias Briefwechsel sind nicht genau datiert, doch in einem Teil dieses Zeitraums – in den besagten 99 Tagen – war sie nicht Kronprinzessin, sondern tatsächlich deutsche Kaiserin (Kaisergemahlin).

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Was haben wir gelitten unter diesem Regiment!!! Wie vollkommen korrumpierend sein [Bismarcks] Einfluss ist auf seine Schule – auf seine Mitarbeiter, auf das politische Leben in Deutschland! Er hat es nahezu unerträglich gemacht, in Berlin zu leben, wenn man nicht ein unterwürfiger Sklave ist!! Seine Partei, seine Anhänger und Bewunderer sind fünfzigmal schlimmer als er! Es kommt einem vor, als wollte man einen lauten Ruf nach Erlösung gen Himmel schicken und dass, wenn er erfüllt, ein großes, tiefes Aufatmen zu hören sein würde. Aber leider Gottes würde es Jahre dauern, den ganzen verursachten Schaden in Ordnung zu bringen!! Natürlich sehen diejenigen, die nur den äußerlichen Aspekt der Dinge betrachten, Deutschland stark, groß und geeint, ausgestattet mit einer riesigen Armee (in Kriegszeiten fast drei Millionen Mann!), einem Minister, welcher der Welt befehlen kann, einem Monarchen, dessen Haupt mit Lorbeeren bekränzt ist, einem Handel, der sich anschickt, alle anderen zu übertreffen, und einem deutschen Element, das sich überall auf der Welt bemerkbar macht (selbst wenn man es nicht liebt oder ihm vertraut). Sie können gar nicht daran denken, dass wir irgendeinen Grund hätten zu klagen, sondern nur, dankbar zu sein. Wenn sie nur wüssten, zu welchem Preis all dies erkauft wird!

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Welches Getue ist gemacht worden um das [ . . . ] Jubiläum von Prinz Bismarcks Amtsantritt! Mehr als ein trauriger und bitterer Gedanke erfüllt unseren Kopf, wenn man an die Mittel denkt, mit denen er große Dinge erreicht hat und an den schlimmen Schaden, den er angerichtet hat an vielem, was kostbar war, am Leben und Ansehen guter und verdienter Männer, usw., und an die üble Saat, die er gesät hat, von der wir eines Tages die Früchte ernten werden.

Es ist vielleicht nicht seine Schuld, er ist ein un homme du moyen âge – mit der Überzeugung und den Prinzipien aus jenen finsteren Tagen, als la raison du plus fort était toujours la meilleure und das, was menschlich, sittlich, fortschrittlich und zivilisiert war, als dumm und lächerlich betrachtet wurde und ein christlicher und liberaler Geist als absurd und unpraktisch. Die junge Generation sieht sein Prestige und seinen Erfolg und ist sehr stolz auf sie und genießt es, sich im Abglanz seines Ansehens und seiner Berühmtheit zu sonnen. Er hat sehr große Dinge getan und besitzt momentan beispiellose Macht und unerreichte Stärke! Oh, wenn sie nur für die gute Sache eingesetzt würden, wäre man immer bereit, ihn zu bewundern und zu segnen! Er hat Deutschland groß gemacht, aber weder beliebt, frei, glücklich, noch hat er dessen enormen Ressourcen zum Guten eingesetzt! Despotismus macht sein Wesen aus; es kann langfristig nicht richtig und nicht gut sein!

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