Mein Geschichtsprofessor, Friedrich Meinecke, hielt jeden Morgen um 9 Uhr seine Vorlesung. In der ersten Vorlesung eines Semesters reservierte man sich einen Platz, indem man am Pult seine Visitenkarte anbrachte; ich hatte mir einen sehr guten Platz in der Mitte der zweiten Reihe reserviert, um gut zu hören, was Meinecke sagte. Aber früh morgens aufzustehen ist noch nie nach meinem Geschmack gewesen, und so traf ich gewöhnlich erst in der letzten Minute ein – manchmal sogar erst, wenn Meinecke bereits auf das Katheder stieg. Um zu meinem Platz in der Mitte zu gelangen, mußten alle anderen in meiner Sitzreihe aufstehen. Mit der Zeit wurde mir deutlich, daß sich ein junger Mann demonstrativ immer langsamer erhob, wenn ich zu meinem Platz strebte. Am Ende mußte ich ihn geradezu schubsen, um an meinen Stuhl zu kommen. Das war der junge Mann auf Alsbergs Gesellschaft! Wir starrten uns an. Schließlich sagte einer von uns, ich weiß nicht mehr, wer: »Morgen früh werden wir mit Fäusten aufeinander losgehen.« Wir lachten und zogen uns zu einer Unterhaltung in eine Ecke fern der Juristenprominenz zurück; das war der Beginn meiner Freundschaft mit Arnold Haase, die bis auf den heutigen Tag dauert.
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Zwischen dem Ende meiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Edition der Dokumente des Auswärtigen Amtes und der Wiederaufnahme meines Studiums in Berlin im Herbst 1926 hatte ich ein Jahr lang in München studiert. Nach der politischen Unruhe der Nachkriegsjahre, die in dem Hitler-Putsch vom November 1923 gipfelte, war München in einen ruhigen Provinzialismus versunken. Ich erinnere mich an Plakate, die eine öffentliche Kundgebung Adolf Hitlers ankündigten, der gerade aus dem Gefängnis entlassen worden war, aber es kam mir nicht in den Sinn, zu einer seiner Versammlungen zu gehen; Hitler und seine Bewegung erschienen damals vollkommen uninteressant.
Trotz des Mangels an äußeren Aufregungen war das Leben in München – eine schöne Stadt in einer herrlichen Landschaft – nicht nur höchst angenehm, sondern auch in intellektueller Hinsicht sehr lohnenswert. [ . . . ]
Doch obwohl München seine unverkennbaren Reize hatte, stand es für mich außer Frage, daß ich mein Studium in Berlin abschließen und dort auch meinen Doktor machen wollte. Die eigentliche Anziehungskraft ging für mich von Friedrich Meinecke aus; es gab verschiedene Gründe, weshalb es mir erstrebenswert schien, ihn als Doktorvater zu haben. Meinecke hatte die deutsche Geschichtswissenschaft aufgerüttelt, indem er die Beziehung zwischen intellektuellen Bewegungen, gesellschaftlichem Denken und politischem Handeln hervorhob, und nachdem ich nun zwei Jahre an zeitgenössische Dokumente der Diplomatie gewendet hatte, suchte ich meinen historischen Gesichtskreis zu erweitern. Während meiner Zeit im Auswärtigen Amt hatte ich eine Reihe von Meineckes Studenten kennengelernt, und so hatte ich gehört, daß er seinen Studenten in der Wahl ihrer Gegenstände ziemlich freie Hand ließ, sich aber gleichzeitig sehr dafür interessierte, was sie dann machten. Schließlich war Meinecke unter den vielen konservativen und zum Teil sogar reaktionären deutschen Professoren jener Zeit eine Ausnahme: ein Verteidiger der Republik.
Meinecke war ohne Zweifel ein großer Lehrer. Es ist jedoch sehr schwer zu sagen, was wirkliche Lehrfähigkeit ausmacht, und in Meineckes Fall ist es besonders schwer, denn er stotterte, und vom rhetorischen Standpunkt aus waren seine Vorlesungen nicht hervorragend. Sie waren jedoch glänzend organisiert, und indem Meinecke die Ereignisse der Nationalgeschichte in einen europäischen Kontext stellte, setzte er eine Tradition der deutschen Geschichtsschreibung fort, die mit Ranke begonnen hatte. Seine Seminare waren Übungen in historischer Methodologie und vermittelten vor allem die Kunst der Interpretation. Gewöhnlich besprachen wir ein einzelnes Dokument oder einen Vertrag – etwa die französische Verfassung von 1814 oder Machiavellis Fürst –, und die Bedeutung jedes Satzes, fast jedes Wortes wurde genauer Untersuchung und Diskussion unterworfen.