Berlin, 7. Januar 1919 Mein liebes Kind!
Nur gut, daß ich Dir wenigstens eine Ansichtskarte im Voraus schrieb, denn ich komme jetzt garnicht zu einer längeren Mitteilung. Die Zeiten sind über die Maßen unruhig, fortwährend Putsche u. Krawalle, wer weiß, was wir noch erleben. Während ich hier schreibe, knattern die Maschinengewehre!! Die Spartakusleute haben alle großen Zeitungen besetzt, soeben sagt mir Vater, ein Garderegiment wäre zu ihnen übergegangen. Sie hetzen seit Tagen zum Generalstreik. Gestern haben auch bei uns die Arbeiter um 10 Uhr aufgehört, um die Straßendemonstrationen mitzumachen. Heute früh waren Alle wieder da, um nach einer halben Stunde durch den Mund ihres Vertrauensmannes, eines Spartaciden, wieder um Demonstrationsurlaub zu ersuchen.
9. Januar. Als Vater dies rundweg ablehnte, hatten sie eine Arbeiterversammlung, in der die alten vernünftigen Leute, besonders die aus dem Felde zurückgekehrten, den Spartakusonkel beinahe totschlugen u. mit allen gegen 4 Stimmen (also 4 Spartakusse im Betrieb!) die weitere Arbeitsniederlegung ablehnten. Ich schrieb den Anfang des Briefes am Dienstag Nachmittag, wo ich zu Hause blieb, denn zu Abendbrot hatte ich Richard u. Fritz Pflaums erwartet u. wollte mich darum kümmern, das Haus im besten Kleide zu zeigen. Da stellten plötzlich Stadtbahn u. Elektrische ihren Betrieb ein, in der Wilhelmstr. u. am Brandenburger Tor gab es furchtbare Schießereien, so daß die Pfläume es mit der Angst kriegten, u. zwar sehr berechtigter Weise, denn wie sollten sie aus dem Grunewald her u. wie ev. zurück?! [ . . . ]
Als Reinhold u. ich am Montag mit ihm durch Alt-Berlin wandelten, um ihm die Perlen zu zeigen, das Ephraim’sche Haus, die Nikolaikirche, Krögel, Stadthaus, Klosterstr., Marienkirche u. s. w. gerieten wir immer in die Demonstrantenzüge u. es war bemerkenswert, wie sie ausgerichtet im Tritt marschirten; denn warum denn nicht? Aus dem einfachen Grunde, sie hatten gedient! [ . . . ]
Kuß Mutt