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Bundeskanzler Gerhard Schröder stellt die „Agenda 2010” vor (14. März 2003)

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Arbeitsrecht und Tarifverträge ergänzen sich in Deutschland zu einem dichten Netz geregelter Arbeitsbeziehungen. Das schafft Sicherheit. Aber es ist häufig nicht so flexibel und ausdifferenziert, wie es in einer komplexen Volkswirtschaft im internationalen Wettbewerb sein muss. Die Verantwortlichen — Gesetzgeber wie Tarifpartner — müssen in Anbetracht der wirtschaftlichen Situation und der Arbeitsmarktlage ihre Gestaltungsspielräume nutzen, um Neueinstellungen zu erleichtern. Dazu ist es unabdingbar, dass in den Tarifverträgen Optionen geschaffen werden, die den Betriebspartnern Spielräume bieten, Beschäftigung zu fördern und zu sichern.

Übrigens, in der Praxis gibt es — auch das gilt es einmal klar zu machen — eine Vielzahl erfolgreicher Beispiele für solche Öffnungsklauseln auf dem Boden des geltenden Tarifvertragsrechtes. Diese Erfolge sollte man nicht kleinschreiben.

Diese Erfolge haben Arbeits- und Ausbildungsplätze geschaffen und die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe verbessert.

Dabei ist klar, dass Betriebsvereinbarungen zu Standort- und Arbeitsplatzsicherung, die auf der Grundlage von Öffnungsklauseln getroffen werden, dem Vorbehalt der Zustimmung durch die Tarifvertragsparteien unterliegen.

Es muss aber auch klar sein, dass uns dogmatische Unbeweglichkeit ebenso wenig voranbringt wie aggressive Angriffe auf das Tarifsystem.

In den Tarifverträgen muss durch geeignete Regelungen ein entsprechend flexibler Rahmen geschaffen werden. Das ist die Herausforderung für die Tarifpartner und es ist auch ihre Verantwortung. Art. 9 des Grundgesetzes gibt der Tarifautonomie Verfassungsrang. Aber das ist nicht nur ein Recht, sondern auch eine Verpflichtung; denn Art. 9 verpflichtet die Tarifparteien zugleich, Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt zu übernehmen. Hier kann und darf niemand Einzelinteressen über die gesamtgesellschaftliche Entwicklung stellen.

Ich erwarte also, dass sich die Tarifparteien entlang dessen, was es bereits gibt —, aber in weit größerem Umfang —, auf betriebliche Bündnisse einigen, wie das in vielen Branchen bereits der Fall ist. Geschieht das nicht, wird der Gesetzgeber zu handeln haben.

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Solidarität, der Schutz der Schwächeren und die Absicherung gegen Lebensrisiken sind nicht nur ein Verfassungsauftrag. Sie sind nach meiner festen Überzeugung das Fundament unserer Gesellschaftsordnung.

Nicht erst seit den letzten Wochen erleben wir eine ganz und gar unsinnige Debatte, in der so getan wird, als stünden wir vor der Alternative, den Sozialstaat abzuschaffen oder so zu erhalten, wie er ist. Wer angesichts radikal veränderter Bedingungen der ökonomischen Basis unserer Gesellschaft die Frage so stellt, der hat bereits verloren.

Es liegt doch auf der Hand, dass eine Gesellschaft wie die unsere eine wirklich gute Zukunft nur als Sozialstaat haben kann. Anders als in einem Sozialstaat lässt sich Zusammenarbeit in komplexen Ordnungen, in einer Gesellschaft, in der sich der Altersaufbau, die Art und Dauer der Arbeitsverhältnisse, aber auch die kulturellen Gegebenheiten dramatisch verändern, gar nicht organisieren. Aber wir müssen aufhören — das ist der Kern dessen, was wir vorschlagen —, die Kosten von Sozialleistungen, die der Gesellschaft insgesamt zugute kommen, immer nur und immer wieder dem Faktor Arbeit aufzubürden.

Gewiss: Wir werden erhebliche Einsparungen durch Umstrukturierungen im System und durch Abbau von Bürokratie erreichen. Aber es wird unausweichlich nötig sein, Ansprüche und Leistungen zu streichen, Ansprüche und Leistungen die schon heute die Jüngeren über Gebühr belasten und unserem Land Zukunftschancen verbauen.

Die Menschen in den Betrieben und Büros erwarten, dass wir die Belastung durch Steuern und Abgaben senken. Ich betone noch einmal: Mit den Stufen 2004 und 2005 werden wir das tun. Durch unsere Maßnahmen zur Erneuerung der sozialen Sicherungssysteme senken wir die Lohnnebenkosten. Das ist gewiss nicht immer einfach und die Maßnahme, die wir zusätzlich durchführen müssen, ist es erst recht nicht. Wir werden das Arbeitslosengeld für die unter 55-Jährigen auf zwölf und für die über 55-Jährigen auf 18 Monate begrenzen, weil dies notwendig ist, um die Lohnnebenkosten im Griff zu behalten. Es ist auch deswegen notwendig, um vor dem Hintergrund einer veränderten Vermittlungssituation Arbeitsanreize zu geben.

Natürlich gibt es darüber keine Begeisterung. Das kann doch gar nicht anders sein und das habe ich überhaupt nicht anders erwartet. Es gibt gelegentlich Maßnahmen, die ergriffen werden müssen und die keine Begeisterung auslösen, übrigens auch bei mir nicht. Trotzdem müssen sie sein. Deswegen werden wir sie auch umsetzen.

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