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Bundespräsident Johannes Rau ruft zu mehr Toleranz gegenüber Einwanderern auf (12. Mai 2000)

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Eine Gesellschaft, die in Fragmente zerfällt, kann keine wirklich demokratische Gesellschaft sein. Demokratie bedeutet ja auch, dass Minderheiten Mehrheitsentscheidungen akzeptieren, ja innerlich bejahen. Das setzt voraus, dass Mehrheit und Minderheit, jenseits aller tagespolitischen Konflikte und Kontroversen, gemeinsame Grundvorstellungen teilen. Dann können sie Wir-Gefühl entwickeln, das beide bindet und verbindet.

Wir brauchen das, auch wenn wir auf das Pathos aus vielen Gründen nicht zurückgreifen können, mit den anderen Nationen ihre Gemeinsamkeit begründen.

Verfassungspatriotismus ist wichtig. Aber wir brauchen eine gewisse emotionale Gemeinsamkeit darüber hinaus. Den Gegensatz zwischen „Wir hier“ und „Die da“ verträgt eine demokratische Gesellschaft auf Dauer nicht.

Wenn wir von der Gefahr sprechen, dass unsere Gesellschaft auseinander fällt, dann dürfen wir nicht nur mit den Fingern auf andere zeigen.

Wir müssen uns auch selber fragen, ob wir uns in all den Jahren unserer eigenen Identität immer genügend bewusst waren und ob wir genügend selbstbewusst waren, um Neuankömmlinge für uns in einem tieferen Sinne einzunehmen.

Haben wir nicht gute Gründe – nach 50 Jahren erfolgreicher Friedens- und Demokratiegeschichte –, für unsere Gesellschaft, für ihre Kultur und ihre Lebensformen, vielleicht auch für ihre Symbole, zu werben?

Sollten wir nicht viel deutlicher machen, dass nicht nur Wohlstand und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unser Land attraktiv machen?

Wenn uns das gelingt, dann können wir erwarten, dass aus Immigranten Bürgerinnen und Bürger werden, die hier nicht nur zu Hause sind, sondern sich hier auch heimisch fühlen.

Integration: Das bedeutet nicht Entwurzelung und gesichtslose Assimilation.

Integration ist auch die Alternative zum beziehungslosen Nebeneinander unvereinbarer Kulturen.

Integration: Das ist die immer wieder zu erneuernde Bindung aller an gemeinsame Werte. Wer dauerhaft in Deutschland leben will, braucht seine Herkunft nicht zu verleugnen. Er muss aber bereit sein, eine offene Gesellschaft nach dem Leitbild des Grundgesetzes mitzugestalten. Das ist unser Angebot an alle. Wir können nur dann eine offene Gesellschaft sein und bleiben, wenn sich keine Inseln bilden, die außerhalb des gesellschaftlichen Grundkonsenses liegen.

Darum müssen wir Integration aktiv und systematisch fördern. Jeder Mensch, der das Recht hat, sich dauerhaft in Deutschland aufzuhalten, sollte verpflichtet sein, sich mit unserer Gesellschaft vertraut zu machen: mit unseren Wertvorstellungen, unseren Traditionen und ganz besonders mit unserer Sprache.

Wir sollten ernsthaft darüber nachdenken, ob wir nicht dem Beispiel anderer Länder folgen und uns über ein Gesetz zur aktiven Förderung der Integration verständigen.

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