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Der Sohn eines preußischen Unteroffiziers sinniert über seine Kindheit und Jugend im späten 18. Jahrhundert (Rückblick)

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Im Februar 1797 bekam ich die Masern. Sie waren zu dieser Zeit gefährlich, und ich lag in heftigem Fieber. Dennoch überstand ich sie unter der sorgfältigen Pflege meiner Mutter glücklich, mußte mich aber noch sechs Wochen nachher im Zimmer halten und war so geschwächt, daß ich nur taumelnd gehen konnte, als ich zum ersten Male an die Luft kam. – Man hat die Masern und ähnliche Kinderkrankheiten oft Entwickelungskrankheiten genannt, und ich darf behaupten, daß diese Bezeichnung ihre volle Berechtigung hat. Bei mir brachten die Masern geradezu eine körperliche und geistige Umwälzung hervor. [ . . . ]

Bis zu meiner Krankheit waren Phantasie und Gedächtniß die einzigen Fähigkeiten gewesen, welche einigermaßen hervortraten. Mit den Masern änderte sich das, indem sich zugleich diese Anlagen steigerten. In den ersten Wochen nach der Krankheit durfte ich auch nicht lesen oder die Augen anstrengen. Das machte mir Langeweile, und ich bat meine Mutter, mir so bald als möglich ein Buch zu geben. Dies überraschte sie, denn meist hatte ich mich zum Lesen treiben lassen. Sie hatte sich Campe’s Robinson Crusoe zu verschaffen gewußt und übergab ihn mir. Mit wahrem Heißhunger fiel ich über ihn her. Nie hatte ein Buch eine solche Wirkung auf mich gemacht. Jede Scene stellte sich mir plastisch dar, ich schwebte in Entzücken und beneidete die darin auftretenden Kinder um einen solchen Erzieher, und bald wurden sie mir so befreundet, als wären sie meine Geschwister. [ . . . ] Elfmal habe ich so das Buch hintereinander durchgelesen, ohne eine Silbe zu überspringen, und ich konnte es beinahe auswendig. Nicht ich hatte mich der darin enthaltenen Lebensregeln und Maximen, sondern sie hatten sich meiner bemächtigt; alle Erklärungen waren mir geläufig, alle Scenen gegenwärtig; ich hatte aus jedem Worte Saft gesogen. Außer der Bibel hatte kein Buch auf mich so mächtig gewirkt, keines mich so wesentlich gefördert und meinen Ideenkreis erweitert.

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Leider aber nahm der unglückliche Hang meines Vaters zum Trunke mehr und mehr zu. Die Mutter hatte alles Ersinnliche dagegen vorgenommen; es wurden ihm von allen Seiten Vorstellungen gemacht; es half nichts. Auch die Geduld eines Engels kann ermüden. Wenn er betrunken nach Hause kam, wurde die Mutter nun heftig, er nicht minder, und es gab harte Scenen, bei denen wir Kinder in eine schlimme Lage kamen. Schon kannte die ganze Stadt den Fehler meines Vaters und bedauerte uns. [ . . . ]

Gegen Ende dieses Jahres wurde meine Mutter bettlägerig. Gar bald ergab sich, daß die Krankheit eine sehr ernstliche wurde, die selbst ihrem Leben Gefahr drohte. Sie mußte das jüngste Kind entwöhnen und that dies, als der Körper schon in Unordnung war, ein Umstand, der späterhin höchst traurige Folgen hatte, die wir nicht ahnen konnten. Wir hatten einen recht geschickten Arzt [ . . . ] Er behandelte sie aufmerksam, wurde aber oft auf das Land berufen und blieb dann tagelang weg. Endlich erklärte er uns, meine Mutter sei so schwer erkrankt, daß er wenig Hoffnung habe, sie zu retten. Ihre Gesundheit war bis dahin eisenfest gewesen, und sie hatte weit mehr ertragen und ausgehalten, als man tausend anderen weiblichen Körpern in der Regel zumuthen darf. Das waren schwere Tage für uns, die wir bange zwischen Fürchten und Hoffen verlebten; ja es gab einen Tag, da der Arzt, wie wir alle, ihren Tod mit der höchsten Wahrscheinlichkeit erwarteten. Es war die Krisis; sie überlebte sie und fing an, sich wieder zu erholen. Aber vier Monate blieb sie in einem höchst leidenden Zustande an das Bett gefesselt, während welcher Zeit ich nicht die Schule besuchen konnte; denn meine Schwester und ich mußten nothgedrungen die ganze Wirthschaft besorgen, da das Dienstmädchen genug mit der Abwartung des entwöhnten Kindes und der dreijährigen Schwester, wie mit den nothwendigsten Reinigungsarbeiten gröberer Art zu thun hatte. [ . . . ]

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