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Paul Göhre beschreibt einen Wahlkampf der Sozialisten in Chemnitz (1890)

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Eine bedeutsame Agitation wurde weiter bei den im Sommer fast allsonntäglich stattfindenden Arbeiter- und Kinderfesten entfaltet. Ich weiß nicht, ob das eine besondre Spezialität der Chemnitzer Sozialdemokraten ist; in Berlin treten ihnen zur Winterszeit wenigstens allerhand Bälle, Theateraufführungen, Konzerte und Maskenscherze mindestens gleichwertig an die Seite. Ich habe drei jener Sommerfeste mit erlebt,, eines in unserm Dorfe, zwei in mehrere Stunden von Chemnitz entfernten reizend gelegenen Orten. Man hat deutlich den Eindruck, wie sehr es bei diesen Festen gerade auf die dem rein Politischen und Volkswirtschaftlichen fernstehenden, namentlich auf Arbeiterfrauen, Mädchen und Kinder abgesehen ist. Wer durch den Ernst des politischen Parteigedankens nicht gefesselt werden kann, soll durch die Freude an heiterer Geselligkeit und allerhand amüsanter Unterhaltung für die Partei gewonnen werden und so allmählich auf diesem leichten und lustigen Wege sozialdemokratischen Geist einsaugen. Indem man den Kindern Freude macht, gewinnt man die Herzen der Mütter; indem man daneben ein Tänzchen arrangiert, bringt man die nur auf Vergnügen gerichtete männliche und weibliche Jugend, dieser selbst unbewußt, mit der sozialdemokratischen Bewegung in Berührung und verknüpft ihre doch so ganz anders gearteten oberflächlichen Interessen mit denen der Partei. In Orten, wo die Sozialdemokratie noch nicht allzu festen Fuß gefaßt hat, wird mit besondrer Vorliebe ein solches Fest abgehalten; denn man präsentiert sich auf ihnen von der liebenswürdigsten, harmlosesten Seite und erscheint auch besonnenern und zaghaftern Arbeitern acceptabel und gar nicht fürchterlich. In solchen Fällen erfüllt solch Sommerfest im besondern Sinne Pionier- und Agitationsarbeit, und meist mit größerm Erfolge, als durch Abhaltung einer Anzahl öffentlicher Versammlungen erreicht zu werden pflegt. Noch eine besondre Aufgabe haben diese Feste. Sie sind alle zugleich ein finanzielles Geschäftsunternehmen der lokalen Parteileitung; denn ihr stets angestrebter und meist auch erzielter Überschuß muß die Parteikasse füllen helfen. Auch wurden durch allerhand Dinge, die ich gleich schildern will, noch gern gezahlte Extrasteuern erhoben. Das alles aber verhinderte nicht, daß sehr viele der Teilnehmer gleichwohl einer durchaus harmlosen Freude sich hingaben, und daß diese Harmlosigkeit, diese kindliche, tief im Volke steckende Lust, ungebunden, ganz hingegeben mit einander fröhlich zu sein, für viele Anwesende den eigentlichen Parteizweck in die zweite Linie zurückdrängte. [ . . . ]

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