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3. Kultur
Druckfassung

1. Anfänge: Krieg und Revolution   |   2. Politik und Wirtschaft   |   3. Kultur   |   4. Überblick   |   5. Weiterführende Literatur


Trotz aller politischer und wirtschaftlicher Turbulenzen zwischen 1918 und 1933 erlebte Deutschland während der Weimarer Republik eine kulturelle Blütezeit, deren Nachwirkungen bis heute spürbar sind. Das kulturelle Vermächtnis ist tiefgreifend und umfangreich – die Philosophie Martin Heideggers und Ernst Blochs, die Romane Thomas Manns und Alfred Döblins, das Theater Erwin Piscators und Bertolt Brechts, Fotografie und Film, Radio und Schallplattenaufnahmen, die Musik Kurt Weills, die Lyrik Rainer Maria Rilkes, die Architektur Erich Mendelsohns, Bruno Tauts und Walter Gropius’, die Fotomontagen Hannah Höchs und die Essays Siegfried Kracauers. Die Liste ließe sich lange weiterführen. Die Weimarer Kultur war eine des ununterbrochenen Hinterfragens – insbesondere des Lebens im modernen Zeitalter. Die besten der Weimarer Künstler suchten nach neuen Ausdrucksformen, die der Kakophonie und dem Rhythmus des modernen Lebens sowie dem Glauben an die Möglichkeiten der Zukunft entsprachen. Doch auch Verzweiflung und Zynismus fanden vielfältigen Ausdruck, wie etwa in den Gemälden und Zeichnungen von George Grosz, Otto Dix und vielen anderen. Gleichzeitig existierten Idealismus und Freude – in Bruno Tauts Stadtlandschaften, Walther Ruttmanns Filmen oder auch der lebhaften Erotik, welche die Kultur der Weimarer Ära durchzog.

Sex und Sexualität wurden in der Weimarer Zeit zu Themen breiten öffentlichen Interesses. Es wurde freizügiger und offener über Sex gesprochen als je zuvor. Sexualreformer hielten Vorträge in überfüllten Sälen und veröffentlichten Bücher und Ratgeber, die zu Hunderttausenden verkauft wurden. Öffentliche Kliniken boten Männern und Frauen Beratung zu Geschlechtsverkehr und Verhütung an. In den Augen der Reformer, deren Großteil Liberale, Sozialdemokraten oder Kommunisten und häufig jüdisch waren, lebten die meisten Deutschen in „sexuellem Elend“. Sie glaubten, dass Demokratie Männer und Frauen sexuell emanzipieren solle; ein erfülltes Sexleben (und für einige bedeutete dies auch Homosexualität) sei ein wichtiger Bestandteil einer funktionierenden demokratischen Gesellschaft. Sexualität – und die „neue Frau“, Symbol weiblicher Unabhängigkeit und sexueller Emanzipation – wurden zum Fokus eines tiefen politischen Konflikts. Für Tausende Deutsche spielte sich das emanzipatorische Versprechen des Weimarer Systems ebenso im Schlafzimmer ab wie in den Regierungskorridoren. Doch konservative Deutsche, die Verfechter einer nüchternen, zurückgenommenen Sexualität im Sinne des christlichen Familienethos, waren von den freizügigen Diskussionen über Sexualität schockiert. In ihren Augen brachte die Republik Unmoral und Lasterhaftigkeit hervor.

Das kulturelle und sexuelle Erwachen der Weimarer Zeit war nicht lediglich ein Ergebnis der Kriegserfahrung, wie so oft behauptet wird. Der Krieg überwarf sicherlich die alte Ordnung, und nicht nur in politischer Hinsicht, sondern auch deren Legitimation in den Augen unzähliger Deutscher. Das System des Reichs brachte dem Land unfassbares Unglück, Hunderttausende auf den Schlachtfeldern Gefallene, sowie Überarbeitung, Mangelernährung und Krankheiten im eigenen Land. Selbst erhebliche Teile der Rechten forderten nicht etwa die Wiederherstellung des kaiserlichen Deutschland und die Wiederkehr der Hohenzollern, sondern Faschismus, eine neue, äußerst dynamische und weitaus gefährlichere Rechte. Auf der Linken argumentierten Sozialisten und Kommunisten, das Unheil eines totalen Krieges könne in Zukunft nur durch die Einrichtung einer Demokratie oder des Sozialismus oder Kommunismus oder aber einer Mischform dessen verhindert werden.

Die Revolution war nicht nur eine Nachwirkung des Krieges, sondern entfachte auch viele der progressiven kulturellen und gesellschaftlichen Errungenschaften der Weimarer Ära. Die Deutschen rebellierten; sie stürzten den Kaiser und errichteten eine demokratische politische Ordnung. Indem sie dies taten, entfesselten sie ihre politische, gesellschaftliche und kulturelle Vorstellungskraft. Die Zerstörungskraft des Krieges und die Kreativität der Revolution beeinflussten die Arbeit und das Denken deutscher Künstler und Intellektueller sowie derjenigen, die nach einer freieren, toleranteren Existenz strebten – politisch, gesellschaftlich und sexuell. Unglücklicherweise sollte das Potenzial Weimars nicht permanent in Erfüllung gehen. Letztlich machten die reaktionären Kräfte sein Versprechen zunichte. Bis heute blicken wir mit Staunen und Bewunderung auf diese turbulente Zeit zurück – doch auch mit Schrecken angesichts der brutalen, feindlichen Reaktion, welche die Weimarer Demokratie ebenfalls hervorbrachte.

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