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1. Augenzeugen und Familien
Druckfassung

1. Augenzeugen und Familien   |   2. Regierung   |   3. Reformation   |   4. Konfessionen


A. Augenzeugen

Wenn die Jahrzehnte vor 1500, in Johan Huizingas Worten, „den Herbst des Mittelalters“ darstellten, dann folgte auf diesen Herbst keinesfalls ein Winter, sondern ein Frühlingsanfang. Die Städte und ihre Bürger gediehen wie nie zuvor, beflügelt von der Verbreitung der Lesefähigkeit und der Erholung des Handels. Kleinbürger und sogar Bauern erhielten die Bürgerrechte. Adlige wuchsen in einem Zeitalter auf, welches Fähigkeiten notwendig machte, die ihren Vorfahren fremd gewesen waren (z.B. die Fähigkeit, auf Deutsch und Latein schreiben zu können sowie Rechtskenntnisse), und sie bildeten sich durch Studium und Reisen anstatt sich allein auf die Gewohnheiten zu verlassen.

Das fünfzehnte Jahrhundert sowie die darauf folgenden brachten Augenzeugenberichte in bisher ungekannter Zahl und Qualität hervor. Vor 1500 war es für Frauen eher selten, solche Texte zu verfassen. Der früheste bekannte autobiografische Text einer deutschsprachigen Frau stammt von Helene Kottannerin (ca. 1400-nach 1458), einer Wiener Adligen und Hofdame Königin Elisabeths (ca. 1409-42), der Frau Alberts II. aus dem Haus Habsburg, der römischer König (und Wahlkaiser) (reg. 1438-39) und König von Ungarn (reg. 1437-39) war. Als Albert am 27. Oktober 1439 starb, war Elisabeth im fünften Monat mit dessen Kind schwanger, das laut ihrer Ärzte ein Junge sein sollte. Um ihrem zukünftigen Sohn dessen Recht auf die Thronfolge zu sichern, musste sie ihn so bald wie möglich krönen lassen. Sie beauftragte daher Helene Kottannerin, in die königliche Festung Plintenburg (ungarisch: Visegrád) einzubrechen und die streng bewachte Stephanskrone zu stehlen. In ihren Erinnerungen beschreibt Kottannerin, wie sie gemeinsam mit einem ungarischen Adligen am 20. Februar 1440 die Krone sowie die königlichen Insignien stahl, durch Kopien ersetzte und über die Donau entkam. Sie händigte die Krone an Elisabeth aus, welche wenige Stunden später ihren Sohn Ladislaus (ungar.: László) zur Welt brachte. Im Mai 1440 arrangierten die beiden Frauen die Krönung des drei Monate alten Ladislaus zum König von Ungarn. Auch diese Episode wird in Kottannerins Erinnerungen geschildert. Letztlich sollte ihr Wagemut jedoch umsonst sein, denn Ladislaus starb im Alter von nur siebzehn Jahren, und die Thronfolge über Ungarn und Böhmen ging an den König von Polen über. Nichtsdestoweniger ist die Geschichte erstaunlich, nicht nur, weil zwei mutige Frauen in deren Mittelpunkt stehen, sondern auch, weil eine von ihnen ein schriftliches Zeugnis davon hinterlassen hat.

Die Bürger, welche vom Klerus zu schreiben gelernt hatten, begannen nun auch, über ihre eigenen Lebenserfahrungen zu schreiben. Der Augsburger Burkard Zink (1397-1474/75) schrieb einen Bericht über seine Zeit nieder, in den er auch die Geschichte seines eigenen Lebens einbaute. Trotz seiner bescheidenen Verhältnisse erhielt Zink ein gewisses Maß an Bildung, reiste viel und heiratete eine Schneiderin, mit der er einen eigenen Haushalt gründete. Sein Bericht beschreibt sowohl die großen Ereignisse in Süddeutschland zu jener Zeit wie den Städtekrieg der 1440er Jahre als auch sehr familiäre Angelegenheiten: Jugend, Schule, Partnerwerbung, Hochzeiten sowie die Geburt, Taufe und den Tod seiner Kinder. Zink ist ein ideales Beispiel eines Mannes, dessen Leben in einfachen Verhältnissen (in Memmingen) begann, der es jedoch durch Intelligenz, harte Arbeit und eine gute Ehe schaffte, ein respektabler Bürger einer großen Stadt zu werden.

In mancher Hinsicht war es für den niederen Adel schwieriger, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Die Geschichten dreier Männer der gleichen Generation und aus dem gleichen Land – Franken – ermöglichen einen interessanten Vergleich. Michel von Ehenheim (1462/63-1518) sah die Notwendigkeit, seine Taten zur Unterweisung und dem Vergnügen seiner Verwandtschaft und Nachkommen festzuhalten, doch ist sein Bericht spärlich und rein beschreibend, im Wesentlichen eine Familienchronik. Seine Lebensweise, welche mit dem Kriegsdienst für verschiedene Fürsten verbunden war, passt ebenfalls in ein traditionelles Muster. Der zweite und weitaus berühmtere Mann, Götz von Berlichingen (ca. 1480-1562), verfügte ebenfalls über eine traditionelle Bildung und fühlte sich seiner Familie und Abstammung verpflichtet, führte allerdings ein von Fehden bestimmtes Leben, sowohl zum Profit als auch zum Vergnügen. Der dritte dieser Adligen, Ulrich von Hutten (1488-1523), ist ein Beispiel dafür, wie das Leben durch Lesefähigkeit und höhere Bildung verändert werden konnte. Er studierte an sieben deutschen und italienischen Universitäten, verkehrte mit Gelehrten, publizierte sowohl auf Latein als auch auf Deutsch und erhob literarisch wie politisch seine Stimme – was einzigartig in seiner Schicht war – für eine stärkere Monarchie und Kirchenreform. Das Landleben, welches Berlichingen derart genoss, langweilte Hutten, der von dessen Gestank und Ärmlichkeit angewidert war.

Obwohl die Lebenserwartung in den Städten bekanntermaßen kürzer war, zogen sie Zuwanderer besonders aus Kleinstädten und Dörfern an. Wir wissen, dass es vielen dieser Zugezogenen in den Städten gut erging, doch kennen wir kaum Beispiele einzelner Bauern, die zu respektablen Bürgern aufstiegen. Der außergewöhnlichste Fall hierfür ist wohl Thomas Platter (1489-1552), ein Bergziegenhirte aus dem Valais (in der heutigen Schweiz), der solange in dem Streben nach Wissen umherwanderte, bis er im Zeitalter der protestantischen Reformation genug Wissen erlangt hatte, um Griechischlehrer an einer höheren Schule in Basel zu werden. Seine Erzählung ist bemerkenswert, jedoch kein Einzelfall. Ein Jahrhundert später begegnen wir einem weiteren einfachen Mann, dem schwäbischen Schuster und Bauern Hans Heberle (1597-1677). Er lebte mitten im Dreißigjährigen Krieg und manchmal sehr nah an dessen Fronten und zeichnete sowohl die großen Ereignisse dieses Konflikts als auch die Geschicke seiner kleinen Familie auf – ebenso wie Burkard Zink es fast zweihundert Jahre zuvor getan hatte. Heberle, Platter und Zink veranschaulichen, inwiefern die Menschen durch Fähigkeiten, Lesekenntnisse und Freizügigkeit verändert wurden und wie ihr Leben zwischen öffentlichen und privaten Dingen verortet war.


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