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Bilder - Deutschland als Mittelmacht

Als Teil der Verhandlungen zur deutschen Vereinigung gaben Großbritannien, Frankreich, die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten 1990 ihre alliierten Rechte in Deutschland auf. Das vereinte Deutschland verfügte erstmals seit 1945 wieder über volle Souveränität, war bei weitem das bevölkerungsstärkste Land Europas westlich der Sowjetunion und nicht mehr an der Grenzlinie feindlicher Bündnissysteme. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts eröffneten sich neue Möglichkeiten einer Normalisierung der deutschen Außenpolitik. Damit stiegen die Erwartungen an Deutschland, eine aktive Rolle auf der internationalen Bühne zu spielen. Doch gab es auch kritische und besorgte Stimmen, die eine Vormachtstellung Deutschlands in Europa befürchteten.

Mit der Besetzung Kuwaits durch irakische Truppen im Sommer 1990 und dem Zerfall Jugoslawiens wurden deutsche Politiker schneller als erwartet unter Zugzwang gesetzt. Wie die internationalen Reaktionen, so waren auch die deutschen Positionen zunächst zwiespältig. In der internationalen Koalition gegen den Irak im Zweiten Golf-Krieg (1990-91) bestand Deutschland auf seiner gewohnten Rolle: kein eigenes militärisches Engagement, jedoch finanzielle Unterstützung des Militäreinsatzes. Deutschland nahm eine umstrittene Führungsrolle ein, als Slowenien und Kroatien als erste Länder eine Abtrennung von Jugoslawien und die internationale Anerkennung ihrer völkerrechtlichen Souveränität suchten. Dennoch standen die Einbindung deutscher Interessen in internationale Organisationen, die Förderung der europäischen Integration (siehe Kapitel 9) und die Pflege der transatlantischen Beziehungen nach wie vor im Zentrum deutscher Außenpolitik.

Der Druck der Bündnispartner in Europa und den USA auf die Regierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl, größere, auch militärische Verantwortung zu übernehmen, wuchs angesichts neuer Krisenherde in Jugoslawien und Afrika. Die Einbindung der Bundeswehr in die NATO vertiefte sich nach dem Ende des Kalten Krieges infolge einer grundlegenden Veränderung der Sicherheitspolitik, die schrittweise deutsche Militäreinsätze im multilateralen Kontext über humanitäre Hilfe hinaus erlaubte. Eine Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1994 ebnete den Weg zu militärischen Einsätzen der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebietes, vorausgesetzt der Bundestag hat diese gebilligt. Nach dem Friedensabkommen von Dayton (1995) stimmte der Bundestag einer Stationierung von deutschen Soldaten als Teil der Friedensmission in Kroatien zu. Inzwischen hat sich die Bundeswehr von einer territorialen Verteidigungsarmee zu einer internationalen Einsatzarmee entwickelt. Seit den neunziger Jahren sind mehr als 160.000 Soldaten in internationalen Krisenherden tätig gewesen, doch die stationierten Truppenkontingente sind jeweils auf einige Tausend beschränkt. So waren Ende 2006 insgesamt ca. 9.000 Soldaten im Einsatz. Die Bevölkerung verhält sich gegenüber diesen Auslandseinsätzen skeptisch bis ablehnend; ihre Haltung zu den „Bürgern in Uniform“ ist freundlich distanziert.

Dass die Ausweitung der Sicherheitsdoktrin vor allem unter der rot-grünen Koalition (1998-2005) stattfand, hat die Aufgabe sowohl erschwert als auch erleichtert. Sie hat sie erschwert, da die Regierungsparteien SPD und die Grünen für ihre pazifistischen Positionen bekannt waren. Die parteiinternen Auseinandersetzungen waren schwierig und zuweilen turbulent. Die Kehrtwendung wurde möglich, da die Erinnerung an den Holocaust – „Nie wieder Auschwitz“ – nicht mehr ausschließlich zur Rechtfertigung des Pazifismus, sondern auch zur Rechtfertigung militärischer Einsätze, die der Verteidigung von Menschenrechten dienen, herangezogen wurde. Sie hat sie erleichtert, da die Zustimmung der Regierungsparteien zu den Militäreinsätzen in Kosovo und Afghanistan den Weg zu einem breiten Konsens in Politik und Gesellschaft ebneten.

Kraft ihrer geographischen Lage, Wirtschaftskraft und geschichtlichen Bindungen wurde die Bundesrepublik nach dem Ende des Kalten Krieges schnell zu einem wichtigen Bündnispartner der Staaten in Mittel- und Osteuropa. In Ländern wie Polen und der Tschechoslowakischen Republik (seit 1993: Tschechische Republik und Slowakei) waren die Reaktionen auf die potentielle neue Rolle Deutschlands gespalten: als Fürsprecher bei der Osterweiterung von NATO und der Europäischen Union und als Wirtschaftsinvestor waren deutsche Politiker, Firmen und Organisationen wichtig und willkommen. Doch angesichts der unbewältigten Vermächtnisse der Hitlerschen Großmacht- und Rassenpolitik galt es auch, Misstrauen abzubauen. Zwischen Deutschland und Russland entwickelte sich schnell ein breites Netzwerk an Beziehungen, wobei die wirtschaftlichen Interessen überwogen.

Die Vereinigten Staaten sind neben Europa der wichtigste Bündnispartner Deutschlands und es war deshalb mehr als nur eine symbolische Geste, als Bundeskanzler Gerhard Schröder nach den Terroranschlägen vom 9. September 2001 die uneingeschränkte Solidarität Deutschlands mit den USA im Kampf gegen den Terror versprach. Doch die transatlantischen Beziehungen machten kurz darauf eine Kehrtwendung. Die Vehemenz, mit der sich die rot-grüne Regierung unter der Federführung von Schröder gegen einen Krieg mit dem Irak aussprach und dieses Thema für Wahlzwecke instrumentalisierte, rief in Washington beträchtliche Irritationen hervor. Angesichts der besonderen geschichtlichen Rolle der USA beim Aufbau und der Verteidigung der Bundesrepublik, bewirkten die transatlantischen Störungen bei vielen Deutschen Unbehagen. Gefordert wurde eine Rückkehr zu guten Beziehungen, wobei aber Deutschlands gewachsene internationale Rolle angemessen berücksichtigt werden müsse. Die Rückkehr zu entspannten Beziehungen war nur eine Frage der Zeit. Die Diskussionen um den Irak-Krieg warfen auch Fragen hinsichtlich der Kohärenz der westlichen Allianz auf. Hatten sich in Europa und den Vereinigten Staaten unterschiedliche Wertvorstellungen etabliert, die auch langfristig die europäisch-amerikanischen Beziehungen belasten würden (siehe dazu auch Kapitel 9)?

Die Auseinandersetzungen um den Irak-Krieg machten einmal mehr klar, dass sich deutsche Außenpolitiker dem Multilateralismus verpflichtet fühlen, aber nationale Interessen stärker als bisher artikulieren und das gewachsene internationale Gewicht Deutschlands in die Waagschale werfen. Diese Ambitionen sind nicht neu; allerdings nahm die Geschwindigkeit, mit der sich Deutschland als Mittelmacht etablierte, nach der Vereinigung zu und beschleunigte sich nochmals in den Jahren der Kanzlerschaft Gerhard Schröders. Die Grenzen der Mittelmacht wurden jedoch deutlich, als Deutschland Anfang der neunziger Jahre vergeblich einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen anstrebte. Da die Außen- und Sicherheitspolitik in Deutschland von einem breiten Konsens aller wichtigen politischen Kräfte getragen wird, stellen Regierungswechsel keine Verschiebung in den außenpolitischen Prioritäten dar.

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