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Erinnerungen an das Sedanfest in den 1870er Jahren (Rückblick, 1930)

Die deutsche Reichsgründung 1871 brachte eine breite Palette von Gedenkpraktiken hervor, von denen viele die kriegerischen Ursprünge des Reichs widerspiegelten. Der Sieg über die französischen Armeen in der Entscheidungsschlacht von Sedan (1.-2. September 1870) wurde nicht in allen Teilen des Reichs gefeiert, und selbst dort, wo dies geschah, hatten die Feierlichkeiten sehr unterschiedliche Bedeutungen für Deutsche verschiedener Klassen, Konfessionen, Geschlechter und Altersgruppen. Die Vielfalt der Sedanfeiern ist Historikern hinreichend bekannt, doch diese Erinnerungen einer jungen Teilnehmerin gewähren ungewöhnlich tiefe Einblicke. Verfasst wurden sie von Florentine Gebhardt (1865-1941), der Tochter eines Juweliers in Crossen und von 1897 bis 1924 Volksschullehrerin in Berlin-Tegel. Wie Gebhardts Bericht nahe legt, brachten die Feiern unter Umständen tagelange Vorbereitungen mit sich: Die Demonstration nationaler Loyalität bedurfte sorgfältiger Einübung. Allerdings lässt sich das Gefühl der Erwartung und Aufregung nicht allein ihrer kindlichen Naivität zuschreiben: Trotz der notwendigen Sparsamkeit und der hohen Anforderungen an die Lehrer scheinen viele erwachsene Ortsbewohner bereitwillig an den Feiern teilgenommen (und von ihnen profitiert) zu haben.

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Crossen* war als Garnisonstadt zwiefach patriotisch und königstreu gesinnt. Die würdige Feier des Sedantages lag selbst der sparsamen Stadtbehörde am Herzen, und sie hat dazu wohl etwas tiefer in den Säckel gegriffen, als sie es bei anderen Gelegenheiten tat. Jeder Bürger tat das Seine, soweit es in seiner Macht stand. Natürlich waren alle Häuser schwarz-weiß-rot beflaggt, die Fahnen waren ja vom Einzug 1871 her noch vorhanden, und die Straßen, durch welche sich am Nachmittag der Festzug bewegen sollte, zeigten außerdem Laubgewinde, quer herübergespannt oder an einzelnen Häusern. Wir Kinder waren natürlich viel zeitiger wach als sonst, obwohl die Schulfeier erst um 9 oder 10 Uhr begann. Sie fand für die städtischen höheren Schulen in der Aula statt, zuerst für die Oberklassen der Knabenschule und danach für die der Mädchenschule. Vermutlich haben die Elementarschulen nur Klassenfeiern gehabt; darüber weiß ich nichts zu berichten. Schon die Erlaubnis, den uns sonst verschlossenen geheiligten Raum der Aula betreten zu dürfen, war etwas Großes. Mit scheuer Bewunderung streiften meine Augen immer die großen Glasschränke an den Wänden, darin die ausgestopften Tiere (Anschauungsmaterialien für die Knabenschule) standen, die Kaiserbüste im Hintergrund. Und mit einer Empfindung feierlicher Erwartung nahm ich auf der Bank zwischen den Gefährtinnen Platz. Nicht ohne heimlich musternde Blicke auf sie zu werfen, ob sie auch, wie ich, allerbeste Kleider anhatten. Ich mußte für den Vormittag mein wollenes Sonntagskleid anziehen, das weiße wurde für den Ausflug aufgespart. Da ich ja nicht deklamierte, war es früh nicht nötig, in Weiß zu prangen. Dann ging die Sache vor sich. Irgendeiner der Lehrer hielt die Festrede, auf die man nicht sehr hinhörte, eine Zahl Auserwählter sang die vorher eingeübten Lieder, und die einzelnen noch Auserwählteren sagten ihre Gedichte auf. Wobei scharfe Kritik von seiten der neiderfüllten Nichterwählten geübt wurde. So hätte es ja eine jede von uns auch gemacht! – Nachdem das Kaiserhoch und die [preußische] Nationalhymne zum Schluß ertönt waren, wurden wir entlassen mit der Mahnung, um ½2 Uhr uns auf dem Schulhofe zu versammeln. – Nun galt es noch, letzte Hand anzulegen. Mit Mühe erbettelte man den Groschen für die schwarzweißrote Papierschärpe, die durchaus für den Auszug nötig schien, und für einen Papierballon; denn es war Klassenbeschluß, daß wir solche hatten, die an schwarzweißrot beklebte Stäbe gehängt getragen werden sollten. Grüne Laubkränze als Kopfschmuck waren beliebter als Strohhüte. Die Knaben hatten Eichenzweige an den Mützen, auch Papierschärpen u. Stocklaternen. Der Vorrat bei den Buchbindermeistern



* Crossen, Kreisstadt im Regierungsbezirk Frankfurt/Oder, Provinz Brandenburg, 1. Dezember 1875 6489 Einwohner. [Fußnote stammt aus: Jens Flemming, Klaus Saul und Peter-Christian Witt, Hg., Quellen zur Alltagsgeschichte der Deutschen 1871-1914. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1997, S. 61]

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