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Geschichtsprofessor Karl Alexander von Müller berichtet vom ersten Reichsparteitag der NSDAP in München, Januar 1923 (Rückblick)

Für die Zeit vom 27. bis zum 29. Januar 1923 plante die NSDAP ihren ersten Reichsparteitag in München. Allerdings war im Januar 1923 die politische Stimmung äußerst aufgeheizt – am 11. Januar hatten französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet besetzt, während in München Putschgerüchte im Umlauf waren. Die bayerische Regierung verhängte daher den Ausnahmezustand über München und verbot zunächst die zwölf von der NSDAP geplanten Massenveranstaltungen. Dank der Vermittlung von Ernst Röhm und dem Wohlwollen, das der Landeskommandeur des bayerischen Reichswehrkontingentes, Generalleutnant Otto von Lossow, und der Regierungspräsident von Oberbayern, Gustav Ritter von Kahr, Hitler entgegenbrachten, wurde das Verbot praktisch aufgehoben. In diversen Münchner Bierkellern (u.a. Augustiner-, Bürgerbräu-, Löwenbräukeller) fanden am 27. Januar die ersten NSDAP-Veranstaltungen statt, auf denen Hitler jeweils kurz auftrat. Am 28. Januar marschierten 5.000-6.000 SA-Männer und Angehörige anderer Wehrverbände auf dem Marsfeld an Hitler vorbei. Anschließend überreichte er die ersten vier Hakenkreuz-Standarten an die aktivsten SA-Hundertschaften (München I und II, Landshut und Nürnberg). Nach weiteren Feiern in Bierkellern fand am Abend des 29. Januar die Generalmitgliederversammlung der NSDAP im Zirkus Krone statt. Die 1923 in Ansätzen vorhandenen quasi-liturgischen Formen und Rituale bei Massenveranstaltungen der NSDAP wurden in den folgenden Jahren weiter perfektioniert, insbesondere bei den weiteren Reichsparteitagen (1926 in Weimar, sowie 1927, 1929 und 1933-1938 in Nürnberg).

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Am 28. traten, statt fünftausend, sechstausend Mann SA auf dem Marsfeld an. Am Vorabend brauste Hitler im Auto von einer der zwölf Versammlungen zur andern. Im »Löwenbräu« hörte ich ihn damals zum ersten Mal öffentlich sprechen. Wie viele politische Versammlungen hatte ich schon in diesem Saal erlebt. Aber weder im Krieg noch in der Revolution hatte mich schon beim Eintreten ein solcher Gluthauch hypnotischer Massenerregung angeweht. Es war nicht nur die besondre Spannung dieser Wochen, dieses Tages. »Eigne Kampflieder, eigne Fahnen, eigne Symbole, ein eigner Gruß«, notierte ich, »militärähnliche Ordner, ein Wald grellroter Fahnen mit einem schwarzen Hakenkreuz auf weißem Grund, die seltsamste Mischung von Soldatischem und Revolutionärem, von Nationalistischem und Sozialem – auch in der Zuhörerschaft: überwiegend der herabgleitende Mittelstand, in all seinen Schichten – wird er hier neu zusammengeschweißt werden?« Stundenlang ununterbrochen dröhnende Marschmusik, stundenlang kurze Reden von Unterführern, wann würde er kommen? War doch noch ein Unerwartetes dazwischengetreten? Niemand beschreibt das Fieber, das in dieser Atmosphäre um sich griff. Plötzlich, am Eingang hinten, Bewegung. Kommandorufe. Der Sprecher auf dem Podium bricht mitten im Satz ab. Alles springt mit Heilrufen auf. Und mitten durch die schreienden Massen und die schreienden Fahnen kommt der Erwartete mit seinem Gefolge, raschen Schritts, mit starr erhobener Rechten zur Estrade. Er ging ganz nah an mir vorbei, und ich sah: das war ein andrer Mensch als der, dem ich da und dort in Privathäusern begegnet war: die schmalen, bleichen Züge wie von einem besessenen Ingrimm zusammengeballt, kalte Flammen ausschleudernd aus den vorgewölbten Augen, die rechts und links nach Feinden auszuspähen schienen, um sie niederzuwerfen. War es die Masse, die ihm diese rätselvolle Kraft eingab? Strömte sie von ihm aus zu ihr? »Fanatisierende hysterische Romantik, mit einem brutalen Willenskern«, notierte ich mir. »Wenn der herabsinkende Mittelstand ihn trägt, dieser Mann selbst gehört ihm nicht an, er muß aus ganz andern dunklen Tiefen kommen: ob er sich seiner nur als Sprungbrett bedient?« [ . . . ]



Quelle: Karl Alexander von Müller, Im Wandel einer Welt. Erinnerungen, Band Drei 1919-1932. Herausgegeben von Otto Alexander von Müller. München 1966, S. 144-45; nachgedruckt in Ernst Deuerlein, Der Aufstieg der NSDAP in Augenzeugenberichten. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1974, S. 164-65.

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