GHDI logo


Dr. Elsa Herrmann, So ist die neue Frau (1929)

Elsa Hermann (1893-?) arbeitete zunächst als Lehrerin an der Höheren Israelitischen Bürgerschule in Leipzig, bevor sie 1920 an der Universität Leipzig im Fach Jura promovierte. Sie lebte anschließend in Berlin und setzte sich vor allem für die Frauenrechte ein. Ihr Buch So ist die neue Frau etablierte sie als kämpferische Stimme in der gesellschaftlichen und politischen Diskussion um die Stellung der Frau in der Weimarer Republik. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 floh Herrmann, die jüdischer Herkunft war, in die Tschechoslowakei. Ihr weiteres Schicksal ist unbekannt.

Druckfassung     Dokumenten-Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument

Seite 1 von 2


[ . . . ]

Dem Anschein nach ist der Unterschied zwischen der Frau unserer Zeit und der vergangener Tage nur im Formalen zu suchen, weil die moderne Frau die Führung des Daseins einer Dame und einer Hausfrau ablehnt und es vorzieht, statt vorgezeichnete Bahnen zu beschreiten, ihre eigenen Wege zu gehen. Tatsächlich aber ist diese Einstellung der Frau von heute den hergebrachten Sitten gegenüber Ausdrucksform einer Weltanschauung, die ihr gesamtes Leben richtunggebend beeinflußt. Die Verschiedenheit der Lebensauffassung der Frauen von gestern und heute, die naturgemäß auch eine Verschiedenheit der Mittel und Formen der Lebensführung nach sich ziehen muß, kommt am deutlichsten in der alles Handeln bestimmenden Zielsetzung zum Ausdruck.

Die Frau von gestern lebte und wirkte nur für die Zukunft. Schon als halbes Kind werkte und sparte sie für den „Hamsterkasten“, das einstige Heiratsgut. In ihrer jungen Ehe arbeitete sie selbst möglichst viel im Haushalt, um Kosten zu sparen und dadurch schon den Grundstein für späteren Reichtum, zum mindesten aber für ein sorgenfreies Alter zu legen. In der Verfolgung dieses Zieles half sie dem Mann in seinem Geschäft oder bei der Ausübung eines freien Berufes. Oft leistete sie Unglaubliches durch die Verquickung ihrer Hausarbeit mit dieser in gewissem Sinn als berufliche Betätigung anzusprechenden Arbeit, deren Erfolg sie an dem Steigen des Wohlstandes ständig beobachten und messen konnte. Sie glaubte, ihren Lebenszweck erfüllt zu haben, wenn die aus dem Erwerb gut angelegter Papiere, eines oder mehrerer Häuser, fließenden Einnahmen es ihr und ihrem Manne ermöglichten, sich vom Geschäft zurückzuziehen. Überdies wurde dem ersparten und erarbeiteten Vermögen noch ein ideeller Wert als Ausdruck der Vorsorge für die Zukunft der Kinder beigemessen.

In allen Gesellschaftssphären der Frau von gestern wurde das gleiche Ziel der Zukunftssicherung verfolgt, nur daß den besonderen Umständen entsprechend verschiedene Mittel zur Anwendung kamen: Die Nur-Dame bestimmte die Gelegenheiten, bei denen sie sich öffentlich blicken ließ, mit Rücksicht auf die Vorteile, die ihr und den Ihren daraus erwachsen konnten, ein Gesichtspunkt, der meist auch für die Wahl ihres Verkehrs und ihres Erholungsaufenthaltes maßgebend wurde. Wenig begüterte Frauen führten vielfach ein sogenanntes „großes Haus“, gaben Gesellschaften und nahmen an Festlichkeiten teil, um in ihrer Umwelt den Glauben zu erwecken, daß alle pekuniären und sozialen Voraussetzungen für ein Avancement in der Karriere des Mannes vorhanden seien. Für jede echte Frau von gestern war es etwas ganz Natürliches, vollkommen selbstlos jedes persönliche und sachliche Opfer zu bringen, durch das der Aufstieg der Familie oder eines ihrer Glieder gefördert werden konnte.

Ihre Hauptaufgabe aber erblickte sie naturgemäß in der Sorge um das Wohl der Kinder, den Trägern des Zukunftsgedankens. Deshalb war ihr Daseinszweck eigentlich auch erfüllt, wenn die Existenz dieser Kinder gesichert war, d. h. wenn sie den Sohn in einem Beruf untergebracht, die Tochter verheiratet hatte. Dann sank sie oft vollkommen in sich zusammen, wie ein gutes Rennpferd zusammenbricht, das unter Aufbietung aller Kräfte bis zum letzten Moment durchgehalten hat. Sie alterte rasch, und es zeigten sich körperliche Leiden, deren Symptome vorher nie wahrgenommen oder kaum beachtet worden waren.

Die Frau von gestern war auf die Zukunft bedacht wie ihre Vorgängerin, die Frau von vorgestern, auf die Vergangenheit. Denn für diese gab es kein anderes Ziel als die Hochhaltung der Errungenschaften der „guten alten Zeit“, um derentwillen sie alles abzuwehren suchte, was irgendwie die überkommene und anerkannte Lebensordnung hätte stören können.

Im Gegensatz hierzu ist die Frau von heute vollkommen auf die Gegenwart eingestellt. Das, was ist, ist für sie ausschlaggebend, nicht das, was einem Herkommen nach sein soll oder sein sollte.

Sie lehnt es ab, als physisch schwaches, hilfsbedürftiges Wesen zu gelten — in dessen Rolle sich die Frau von gestern noch künstlich hineinsteigerte — und will deshalb auch ihre Existenz nicht mehr auf Mitteln aufbauen, die ihr von anderer Seite zur Verfügung gestellt werden, gleichgültig ob sie aus den Einkünften der Eltern oder des Ehemannes herrühren. Um ihrer wirtschaftlichen Unabhängigkeit willen, der notwendigen Voraussetzung für die Entfaltung einer nur auf die eigene Kraft gestellten Persönlichkeit, sucht sie durch Berufsarbeit ihren eigenen Unterhalt zu verdienen. Es ist nur zu natürlich, daß diese Lebensauffassung eine im Vergleich zu früher grundsätzlich veränderte Einstellung der Frau dem Manne gegenüber mit sich bringen mußte, die in ihrem Grundton auf Gleichberechtigung und Kameradschaft abgestimmt ist.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite