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Helmuth James Graf von Moltkes Denkschrift an Hans Wilbrandt und Alexander Rüstow über die Zustände in Deutschland sowie den Warschauer Ghettoaufstand (9. Juli 1943)

Helmuth James Graf von Moltke wurde 1907 als Sohn einer hoch angesehenen preußischen Adelsfamilie geboren, er war der Großneffe Helmuth von Moltkes (1800-1891), des preußischen Generalstabschefs unter Bismarck. Moltke begann 1935 als selbständiger Rechtsanwalt in Berlin zu arbeiten, wo er seine Expertise im Völkerrecht und internationalen Privatrecht teilweise dazu einsetzte, Opfern der NS-Verfolgung bei der Emigration zu helfen. Gleichzeitig nutzte er die Gelegenheit, vor allem in England Kontakte für den deutschen Widerstand zu knüpfen. Als Begründer des von der Gestapo so benannten Kreisauer Kreises (Gut Kreisau war der Name seines Familiensitzes in Schlesien, wo die Treffen der Gruppe stattfanden) war Moltke aktiv an der Planung der staatlichen und gesellschaftlichen Neuordnung Deutschlands nach dem erhofften Sturz des Hitler-Regimes beteiligt. Aus christlicher Überzeugung heraus lehnte er anfangs jedoch ein Attentat auf Hitler ab. In seiner Tätigkeit im Amt Ausland/Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht (OKW) versuchte er, völkerrechtswidrige Handlungen des Militärs zu verhindern. Gleichzeitig nutzte er seinen Zugang zu Geheiminformationen zur Stärkung der Opposition

Im Juli 1943 reiste Moltke in die Türkei, wo er sich mit den deutschen Emigranten Hans Wilbrandt und Alexander Rüstow traf und den folgenden Bericht über die Lage in Deutschland und der Widerstandsbewegungen erstattete. Wilbrandt und Rüstow standen im Kontakt zum US Office of Strategic Services (OSS) und waren Mitglieder des Deutschen Freiheitsbundes (DFB), einer Vereinigung von Exil-Deutschen, die gegen das Hitler-Regime opponierten.

Einige der Informationen, die Moltke den beiden gab, waren von potenziellem militärischen Nutzen und er bat sie, diese weiterzuleiten. Er lieferte außerdem einen Bericht des Warschauer Ghetto-Aufstands vom April-Mai 1943. Die Informationen, die er weitergab, beinhalteten jedoch eine falsche (d.h. übertriebene) Beschreibung dessen, wie viel Unterstützung die jüdischen Kämpfer von anderen erhalten und über wie viele Waffen sie verfügt hatten. Offenbar war diese Information von der SS ausgegangen, die nach Ausflüchten suchte, als sie gegenüber dem deutschen Militär eine Rechtfertigung für ihre Schwierigkeiten bei der Unterdrückung des Aufstandes abgeben musste. Moltke berichtete allerdings richtig, dass Transporte von Juden aus dem Warschauer Ghetto zu „Vernichtungsanstalten“ in Polen geschickt wurden.

Im Januar 1944 wurde Moltke verhaftet, weil er einen Freund vor dessen drohender Verhaftung gewarnt hatte, jedoch zunächst nicht angeklagt. Ein Jahr später wurde er von Roland Freislers (1893-1945) Volksgerichtshof in einem Scheinprozess im Zusammenhang mit dem Attentat des 20. Juli 1944 wegen Hochverrats zum Tode verurteilt, obwohl ihm keine eigentliche Mitwirkung an den Vorbereitungen zum Attentat nachgewiesen werden konnte. Am 23. Januar 1945 wurde er hingerichtet.

Anmerkung zur Quelle: Der folgende Text ist eine Übersetzung der englischen Quelle, die in den US National Archives gefunden wurde. Moltke wäre aufgrund seiner Bildung sicherlich in der Lage gewesen, diesen Bericht auf englisch zu verfassen, da er selbst, Wilbrandt und Rüstow allesamt Deutsche waren, ist es allerdings wahrscheinlich, dass der Bericht zuerst auf deutsch geschrieben und dann für den OSS ins Englische übersetzt wurde. Weder in den US National Archives noch im Deutschen Bundesarchiv konnte jedoch ein deutsches Original dieses Dokuments ausfindig gemacht werden.

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9. 7. 43


Luftangriffe auf Deutschland.

Die Verlautbarungen alliierter Radiosendungen, wonach die deutsche Rüstungsproduktion infolge der Bombardierungen auf Deutschlands Rüstungszentren bislang um 20 – 30 Prozent gesunken ist, sind völlig unzutreffend. Der Produktionsrückgang ist relativ gering. Die von den alliierten Aufklärungsflugzeugen zurückgebrachten Luftaufnahmen scheinen in weit größerem Maße für die Einschätzung des verursachten Schadens verwendet zu werden als Berichte aus erster Hand. Solche Luftaufnahmen mögen wohl die Zerstörung ganzer Werkstätten zeigen, aber sie geben keine Anhaltspunkte über das tatsächliche Ausmaß der Zerstörung von Maschinenausrüstung. Es wurde nachgewiesen, dass, selbst wenn Werkstätten vollständig vernichtet werden, die Maschinenausrüstung im Allgemeinen nur kleinere Schäden erleidet, soweit sie nicht durch Volltreffer zerstört wird. Die intakten Maschinen werden dann 3 – 4 Wochen nach dem Bombardement, sobald die Trümmer weggeräumt sind, wieder in Betrieb genommen; währenddessen werden die Fabrikgebäude selbst nur soweit wiederhergestellt, als es für den Produktionsablauf nötig ist, um für den Beobachter aus der Luft den Anschein schweren Schadens und der Arbeitseinstellung zu wahren. Ausnahmen von dieser Regel sind natürlich die Werke, die aus ihrer Beschaffenheit heraus bei Volltreffern auf jegliche lebenswichtige Teile vollständig gelähmt werden, wie Kesselgebäude, Kraftwerke, Chemiefabriken, Raffinerien etc.

Die Zerstörung von Wohnhäusern stellt einen Umstand dar, der äußerst ernsthaft die Industrieproduktion stört, und der bisher von den Alliierten noch nicht voll wahrgenommen worden ist. Resultierend aus der umfassenden Zerstörung von Arbeitersiedlungen und Wohnvierteln im Ruhrgebiet ist Wohnraum für Arbeiter so knapp, dass diesem Umstand eher eine merkliche Senkung der Produktionsraten zugeschrieben werden kann als jeglichen direkten Treffern auf Produktionszentren. Der akute Mangel an Baumaterial und Arbeitern macht es praktisch unmöglich, mit dieser Lage fertig zu werden. Auch kann hier keine Abhilfe geschaffen werden, indem man alle Einwohner, deren Anwesenheit für die Rüstungsproduktion nicht essentiell ist, aus den von Luftangriffen bedrohten Gebieten evakuiert, da diese Maßnahme andere ernste Verlagerungen mit sich bringen würde, insbesondere im Transportwesen.

Keine Dezentralisierung in der deutschen Verwaltung.

Entgegen der Überzeugung der Alliierten, dass die deutsche Verwaltung teilweise dezentralisiert worden ist, muss betont werden, dass der gesamte administrative Apparat von Staat und NSDAP weiterhin in Berlin und in den anderen traditionellen Verwaltungszentren konzentriert bleibt und dass darüber hinaus keine Vorbereitungen für irgendeine zukünftige Dezentralisierung getroffen werden. Den wiederholten Einwendungen des Oberkommandos der Wehrmacht wird von der Parteizentrale mit dem Argument begegnet, dass es das Prestige der Partei beschädigen würde, falls die Verwaltungszentren anderswohin verlagert werden, und dass der potentielle Einfluss solch vorsorglicher Maßnahmen auf die Moral der Heimatfront es dringend notwendig macht, sie zu vermeiden. Folglich würde ein konzentriertes Bombardement und die mögliche Zerstörung der zentralen Verwaltungsbehörden, die immer noch in traditionellen öffentlichen Gebäuden untergebracht sind, die deutsche Verwaltung sehr effektiv lähmen.

U-Boot-Krieg.

Bezüglich der abgebrochenen Dönitz-Offensive ist es richtig, dass sie eine große deutsche Niederlage darstellt; aber obwohl die U-Boote tatsächlich Ende Juni zurückgerufen wurden, darf dies nicht als rein defensive Maßnahme angesehen werden, sondern muss in Verbindung mit der Entwicklung neuer Offensivtaktiken als Erwiderung auf die verbesserte alliierte Abwehr gedeutet werden. Das OKW (Oberkommando der Wehrmacht) erwartet zuversichtlich neue große U-Boot-Erfolge im August als ein Ergebnis der neuartigen Offensivstrategie.

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