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Dokumente - Umwandlungen der Kultur und des Konsums

Die Verbreitung des Wohlstands als Folge des Wirtschaftswunders führte zu einer drastischen Veränderung in der Populärkultur und im Konsumverhalten in beiden deutschen Staaten. Im Westen führten die Gewerkschaften eine erfolgreiche Kampagne für die Einführung der 40-Stunden-Woche und einen arbeitsfreien Samstag, was mehr Zeit für Freizeitaktivitäten ließ (Dok. 7). Darüber hinaus ermöglichte die Vervierfachung des Durchschnittseinkommens der Haushalte größeren Bevölkerungskreisen begehrte Konsumgüter als Zeichen wirtschaftlichen Erfolgs zu erwerben (Dok. 8) und Autofahren und Fernsehen zu einer Freizeitbeschäftigung zu machen (Dok. 11). Infolgedessen erlebte die Bundesrepublik einen raschen Motorisierungsprozess, wobei die Zahl der Autos um das Sechsfache zunahm: Von unter 5 Millionen 1961 bis auf ungefähr 30 Millionen 1989 (Dok. 14). Ähnlich stieg die Anzahl der Fernsehgeräte im Westen von unter 5 Millionen in den frühen sechziger Jahren bis auf über 23 Millionen am Ende der achtziger Jahre. Zeitversetzt und etwas weniger weit verbreiteten sich wichtige Gebrauchsgüter in der DDR, wo die Zuschauerraten des Fernsehens zwar fast das gleiche Niveau erreichten, die Zahl der Autos aufgrund der 15 Jahre langen Wartezeit zwischen Bestellung und Lieferung sowie der geringen Qualität der Fahrzeuge jedoch hinterherhinkte (Dok. 13).

Die Zunahme an Freizeit und Geld in der westdeutschen Gesamtbevölkerung beschleunigte auch einen Prozess, den seine Kritiker als „Amerikanisierung“ der Populärkultur beschreiben. Obwohl eine Veränderung im Freizeitverhalten wie die Verschiebung von Kino zu Fernsehen (Dok. 4) auch in anderen entwickelten Industriegesellschaften zu beobachten war, wurden in Deutschland gängige ältere Formen der Massenvergnügungen weitgehend durch in den USA produzierte Medien wie Hollywoodfilme oder die Übernahme amerikanischen Lebensstils in Fernsehserien ersetzt. Dieser Einfluss war im Bereich der Rock’n Roll-Musik am deutlichsten, die nicht nur in den späten fünfziger Jahren bei der westdeutschen Arbeiterjugend großen Anklang fand (Dok. 1), sondern auch in Gestalt der „Beat-Musik“ über die Grenze schwappte und anfangs sogar in der DDR toleriert wurde (Dok. 3). Die westdeutschen „Cold War Liberals“ gewöhnten sich an das aufsässige Verhalten der jugendlichen „Halbstarken“, die ostdeutschen Kommunisten jedoch lehnten die Amerikanisierung der Jugend ab, betrachteten sie als dekadent und bevorzugten eine Orientierung am sowjetischen Modell (Dok. 5). Während westdeutsche Künstler solche amerikanisch-inspirierten Stile heimisch machten, indem sie sie auf ihre eigene Art adaptierten, führte die repressive Reaktion der SED zur Politisierung amerikanischer Einflüsse im Osten und zu endlosen Reibungen mit rebellischen Jugendlichen und kritischen Intellektuellen (Dok. 6). Dieser Wandel im Bereich der Kultur und des Freizeitverhaltens verstärkte auch den Säkularisierungstrend. Die westdeutschen Protestanten verloren 3,5 Millionen Mitglieder, und die Katholiken erlebten einen deutlichen Rückgang der Teilnahme an Frömmigkeitsritualen wie der sonntäglichen Eucharistiefeier. Im Osten verstärkte die Befürwortung des Atheismus durch die SED den Rückgang der Kirchenzugehörigkeit zusätzlich (Dok. 15).

Der auffälligste Ausdruck des steigenden Wohlstands in Westdeutschland war die Zunahme des Reiseverkehrs, zunächst innerhalb des Landes, dann auch quer durch Europa und den Rest der Welt. Aufgrund ihrer restriktiven Grenzpolitik und dem Mangel an westlichen Devisen zwang die DDR ihre Bürger zu subventionierten, gewerkschaftlich organisierten Urlaubsreisen innerhalb des eigenen Landes. Bestenfalls ließ sie Reisen in umliegende sozialistische Staaten zu, welche die DDR-Mark akzeptierten (Dok. 2). Im Gegensatz dazu drängten die Westdeutschen in Heerscharen an die sonnigeren Strände Südeuropas und gaben dabei ungefähr dreimal mehr Geld aus als ausländische Touristen in der Bundesrepublik. Dadurch trugen sie dazu bei, den Devisenüberschuss abzubauen, der durch die Industrieexporte entstanden war. Um Ressentiments in den Zielländern gegen die Überschwemmung durch deutsche Touristen zu minimieren, gab die Regierung sogar einen Ratgeber heraus, wie man sich benehmen sollte, um NICHT wie ein typischer Deutscher zu erscheinen, der seine starke Deutsche Mark im Ausland auf den Kopf haut (Dok. 9). Die Reiselust war so groß, dass die Westdeutschen Mitte der achtziger Jahre die zahlreichste und wirtschaftlich stärkste Gruppe unter den Touristen in der internationalen Urlaubsindustrie stellten. Langfristig gesehen, trug diese Entwicklung in gewisser Weise dazu bei, sie kosmopolitischer zu machen (Dok. 12). Aufgrund des Devisenmangels waren die Ostdeutschen gezwungen, ihre Freizeit näher an der Heimat zu verbringen, wodurch sie etwas provinzieller blieben (Dok. 10).

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