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Dokumente - Deutsche Kultur Heute

Eines der ersten Dinge, das einem Besucher aus dem Ausland auffällt, ist die wachsende kulturelle Vielfalt im heutigen Deutschland. Im Gegensatz zu der lange hochgehaltenen Idee des Nationalstaats mit ethnischer Homogenität leben heute Menschen aller Nationalitäten, Ethnien und Religionen in der Bundesrepublik. Eine beträchtliche jüdische Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion hat in den größeren Städten die schrumpfende Gruppe Holocaust-Überlebender und ihrer Nachkommen in eine blühende russischsprachige Gemeinde transformiert (Dok. 2). Gleichzeitig haben viele der ehemaligen Gastarbeiter, insbesondere aus der Türkei, Wurzeln geschlagen und eine eigene muslimische Subkultur gebildet, die immer noch um ihren Status im Gastland kämpft (Dok. 9). Deutsche Sportler mit Migrationshintergrund in Nationalmannschaften sind ein weiterer Ausdruck dieser neuen Vielfalt deutscher Identität. Auch wenn besonders die ältere Generation Schwierigkeiten hat, sich mit der neuen demographischen und kulturellen Realität abzufinden, so ist Deutschland inzwischen zu einem Einwanderungsland geworden. Das langjährige Versäumnis der Politik, dieser Tatsache mit entsprechenden integrationspolitischen Maßnahmen zu begegnen, resultierte in einer alarmierten Debatte über die Entstehung sogenannter „Parallelgesellschaften“, die sich in erster Linie nicht am Grundgesetz, sondern an eigenen Traditionen und Rechtsvorstellungen orientieren.

Obwohl es noch immer homophobe Vorurteile gibt, drückt sich die allgemein gestiegene gesellschaftliche Toleranz auch in einer gestiegenen Akzeptanz der Homosexuellen und ihrer Lebensweise aus (Dok. 13). Die Einführung der eingetragenen Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare sowie die Tatsache, dass deutsche Politiker sich heute zu ihrer Homosexualität bekennen können, ohne um ihre Karriere fürchten zu müssen, sind deutliche Anzeichen dafür, dass Deutschland heute zu den liberalsten und tolerantesten Gesellschaften der westlichen Welt gehört.

Traditionelle Feste wie das Münchener Oktoberfest oder der Karneval werden besonders in den vorwiegend katholischen Gebieten West- und Süddeutschlands mit großer Begeisterung begangen. Andere Massenereignisse sind jüngeren Datums, wie die Love Parade, die seit 1989 stattfindet und seitdem Millionen Teilnehmer anlockt. Entstanden als Ausdruck einer durch Techno und Clubszene geprägten Subkultur, galt die Love Parade anfangs als politische Demonstration, da ihre Zielsetzung ist, Frieden und internationale Verständigung durch das Medium Musik zu fördern. Schon bald begannen Kommentatoren allerdings das Fehlen jeglichen politischen Inhalts der Parade zu bemerken, deren tatsächliche Leitmotive nun Kommerzialität, Exzesse jeglicher Art sowie völlige Hemmungslosigkeit zu sein schienen (Dok. 1). Als Reaktion auf den massiven Einfluss der englischen Sprache auf die Unterhaltungsbranche klammert sich die ältere Generation an traditionellere Angebote wie heimelige Volksmusiksendungen im Fernsehen, die ländliche Alpenszenerien aufbiete, um ein konfliktfreies Leben vorzugaukeln (Dok. 10). In der alten/neuen Hauptstadt Berlin vermischen sich Experiment und Tradition zu einer erstaunlich kreativen Atmosphäre, was die Stadt neben den günstigen Lebenshaltungskosten zu einem Anziehungspunkt für Künstler aller Art gemacht hat (Dok. 12).

Die Vorstellungen der meisten Deutschen von einem guten Lebensstandard konzentrieren sich eher auf absehbare Ziele, die sich nicht allzu sehr von jenen anderer Europäer unterscheiden. Dank großzügiger Urlaubsregelungen investieren viele Deutsche ihr Geld in Pauschalreisen in Orte wärmeren Klimas, an denen die Szenerie zwar exotisch sein, der Service aber dem gewohnten Standard entsprechen soll (Dok. 4). Neben der vielzitierten Reiselust der Deutschen hat sich auch die Begeisterung für das Autofahren und moderne Autos erhalten. Während vergleichsweise hohe Benzinpreise und ein wachsendes Umweltbewusstsein den Großteil der deutschen Autofahrer zum Kauf benzinsparender Autos und zu gemäßigten Fahrtempos überzeugen konnte, lockt die Vorstellung deutscher Autobahnen ohne Geschwindigkeitsbegrenzung dagegen zunehmend Touristen an, so z.B. aus China (Dok. 5). Dank des Einflusses fremder Kulturen und der Reiseerfahrungen im Ausland ist eine Koch- und Esskultur entstanden, die Wert auf erlesene Speisen aus allen Teilen der Welt legt, sodass die Gourmet-Küche mittlerweile ein Niveau erreicht hat, das viele Ausländer überrascht (Dok. 8). Die erstarkte Mode- und Designbranche bekam nicht zuletzt durch Aushängeschilder wie das Model Claudia Schiffer (Dok. 6) einen neuen Glamour, der sie international konkurrenzfähig machte.

Viele intellektuelle Kommentare beschäftigen sich trotzdem nach wie vor mit den dunklen Schatten der Vergangenheit. Obwohl die kommunistische Diktatur die hässliche Spur der Stasi-Repression hinterlassen hat, ist durch die Enttäuschung über die Vereinigung bei vielen Ostdeutschen ein nostalgisches Bild der DDR entstanden, sodass sie rückblickend angenehmer erinnert wird als zu der Zeit, als der „real existierende Sozialismus“ real war (Dok. 3). Eine weitere Herausforderung stellt die Frage des angemessenen Gedenkens an den Holocaust, um zu verhindern, dass weder das Vergessen noch die Ritualisierung der Reue die emotionale Wirkung auf die jüngere Generation abstumpfen lässt. Die Errichtung eines massiven Mahnmals in der Nähe des Brandenburger Tors löste erhebliche Kontroversen aus und hat einen jüdischen Autor dazu veranlasst, sein Unbehagen über dessen Größe und Botschaft zum Ausdruck zu bringen (Dok. 7). Die Herausforderung, unterschiedliche Haltungen zu versöhnen und eine umfassende Interpretation der Vergangenheit anzubieten, wurde dem Deutschen Historischen Museum in Berlin überlassen, dessen Dauerausstellung bei ihrer Eröffnung auf eine Mischung aus Kritik und Lob stieß (Dok. 11).

Trotz der gebotenen Bedächtigkeit ist es der deutschen Gesellschaft in jüngerer Zeit gelungen, einen demokratisch-patriotischen Stolz auf die Errungenschaften ihrer Republik zu entwickeln. Als eine öffentlichkeitswirksame Quelle der Zuversicht erwies sich die Fußballweltmeisterschaft, die 2006 in der Bundesrepublik stattfand. Millionen Besucher aus dem Ausland erlebten ein überraschend attraktives Land mit gastfreundlichen Menschen und einer makellosen Infrastruktur, das sie mit freundschaftlichen Gefühlen wieder verließen. Die Nationalmannschaft erreichte den dritten Platz, und viele Kommentatoren äußerten sich über die plötzliche Explosion schwarz-rot-gelber Fahnen und anderer nationaler Embleme, die von einem unbedrohlichen Patriotismus zeugten und demonstrierten, dass mehr und vor allem jüngere Deutsche allmählich Frieden mit ihrer Nationalität schließen (Dok. 14). Ein weiteres positives Signal war die Wahl eines ehemaligen bayerischen Theologieprofessors zum Papst Benedikt XVI., ein Indiz dafür, dass deutsche Nationalität und Vergangenheit heute in der internationalen Gemeinschaft nicht mehr als belastender Faktor angesehen werden (Dok. 15).

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