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Dokumente - Suche nach Normalität

Die Wiederherstellung der deutschen Nation durch den Beitritt der fünf neuen Länder lässt eine zentrale Frage in den Vordergrund rücken: Was für ein Land soll die erweiterte Bundesrepublik Deutschland sein? Führende Intellektuelle begannen deshalb die genaue Bedeutung einer sogenannten Rückkehr an Normalität zu diskutieren. Können die Deutschen nun die Last der Schuld abwerfen und stolz sein auf ihr Land wie die anderen Europäer oder sollen sie fortfahren, ein Verantwortungsbewusstsein für die im Namen Deutschlands begangenen Verbrechen zu kultivieren? Der rechtsgerichtete Publizist Rainer Zitelmann forderte eine Absage an den Selbsthass und eine Rückkehr zu nationalem Selbstvertrauen, das endlich das historische Trauma heilen sollte (Dok. 2). Alarmiert von diesem Angriff auf ihre diskursive Vormachtstellung, warnten Linksintellektuelle wie SPD-Mitglied Peter Glotz nachdrücklich vor einer „falschen Normalisierung“, die einfach alte Vorurteile wiederbeleben und die Deutschen unfähig machen würde, in einem integrierten Europa zu leben (Dok. 6). Gemäßigte Kommentatoren wie der ostdeutsche Theologe Richard Schröder plädierten stattdessen für einen nüchternen „demokratischen Patriotismus“, der in den Menschenrechten verankert ist, doch gleichzeitig ein Zugehörigkeitsgefühl bietet (Dok. 4).

Eine praktische Konsequenz der Debatte über die deutsche Identität war die Frage des Standorts der künftigen Hauptstadt – Bonn oder Berlin? In der Bundestagsdebatte unterstrichen Bonn-Befürworter wie Norbert Blüm die zivilisierende Wirkung der provisorischen westdeutschen Hauptstadt, während Befürworter Berlins wie Wolfgang Schäuble die historische Tradition und Offenheit der Stadt gegenüber dem Osten heraufbeschworen und in der Schlussabstimmung einen knappen Sieg davontrugen (Dok. 1). Um dem rheinischen Provinzialismus zu entgehen, plädierte der Journalist Johannes Gross für die Etablierung einer „Berliner Republik“, die urbaner sein und Politik und Kultur versöhnen sollte (Dok. 7). Die Debatte um die erneute Nutzung des Berliner Reichstagsgebäudes bekam einen neuen, positiven Impuls, als das bulgarische-französische Künstlerehepaar Christo und Jeanne-Claude den Reichstag verhüllte, wodurch das Gebäude eines misslungenen und angeschlagenen Parlaments zu einem Kunstwerk wurde, das Millionen begeisterter Bürger besichtigten (Dok. 8). Der kostspielige Umbau des Berliner Zentrums und der komplizierte Umzug von Bundeskanzleramt, Bundestag und der meisten Ministerien von Bonn nach Berlin im Jahre 1999 schufen eine Reihe von beeindruckenden Bundesbauten, die ein offenes und kosmopolitisches Gefühl von Deutschland vermitteln (Dok. 12).

Die unmittelbare Aufgabe der Debatte über die Auswirkungen der Einheit betraf allerdings den Umgang mit den Überresten der zweiten deutschen Diktatur, der verblichenen DDR. Ehemalige Dissidenten wie Rainer Eppelmann ergriffen die Gelegenheit, in den breit publizierten Anhörungen der Enquete-Kommission, die das SED-Regime für unrechtmäßig zu erklären versuchte, Anklage gegen den Sozialismus zu erheben (Dok. 3). In einem heftigen Literaturstreit sah sich die prominente ostdeutsche Schriftstellerin Christa Wolf von westdeutschen Journalisten wegen ihrer Komplizenschaft mit der Diktatur attackiert, obwohl sie selbst sich eher als Kritikerin und Opfer des real existierenden Sozialismus verstand (Dok. 5). Allmählich schufen der weitgehende Industrieabbau, die Rückgabe von Eigentum an die ehemaligen Eigentümer und die kulturelle Dominanz westlicher Medien in der ostdeutschen Bevölkerung eine Nostalgie nach dem SED-Regime, die bei Intellektuellen wie der Autorin Daniela Dahn scharfe Kritik am westlichen System auslöste (Dok. 9). Die Enttäuschung über den Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft führte auch zu Klagen über den mangelnden Fortschritt beim Erreichen der inneren Einheit (Dok. 15).

Schließlich musste das neue Deutschland auch seine Haltung zu den dunklen Schatten der länger zurückliegenden Nazi-Vergangenheit definieren. In einer überaus umstrittenen Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels drückte der Schriftsteller Martin Walser sein Unbehagen mit den öffentlichen Reuebekenntnissen aus und betonte den persönlichen Charakter von Gewissen (Dok. 10). Alarmiert von dem, was in seinen Augen ein Versuch der Relativierung der Naziverbrechen war, warnte der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, vor der Tendenz zu vergessen und rief zu fortgesetzter Wachsamkeit gegen Antisemitismus auf (Dok. 11). Um einem nationalistischen Rückfall vorzubeugen, betonte der Präsident des Bundestages, der ostdeutsche Intellektuelle Wolfgang Thierse, anlässlich der Eröffnung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas die moralische Verpflichtung zu Sühne und Toleranz (Dok. 14). In einem Meinungskommentar gab sich Josef Joffe deshalb überzeugt, dass die Deutschen aus ihrer schrecklichen Geschichte gelernt haben und ihre erfolgreiche Demokratisierung zu einer Quelle gerechtfertigten Stolzes werden könnte (Dok. 13).

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