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1. Von der Teilung zur Einheit
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Überblick   |   1. Von der Teilung zur Einheit   |   2. Die Vereinigungskrise   |   3. Normalität und Identität   |   4. Deutschland in der Welt   |   5. Der Abbau des Reformstaus   |   6. Politik im vereinten Deutschland   |   7. Übergänge: Von der Bonner zur Berliner Republik

Angespornt durch die Liberalisierung der kommunistischen Regierungen in der Sowjetunion, Polen und Ungarn, erhofften auch die Bürger der DDR politische Zugeständnisse ihrer Regierung. Als diese ausblieben und die DDR-Regierung stattdessen borniert auf der Richtigkeit ihres eingeschlagenen autoritären Weges bestand, ergriffen die Bürger die Initiative. Im Herbst und Winter 1989/90 erzwangen erst Massenausreisen von DDR-Bürgern auf dem Umweg über benachbarte kommunistische Länder und dann Demonstrationen in den Städten der DDR lange erhoffte politische Konzessionen, einschließlich einer Ablösung der alten kommunistischen Führungsriege um Erich Honecker. Bürgerproteste trotzten der Regierung in schneller Abfolge die Öffnung der Berliner Mauer, an dem so genannten Runden Tisch die Verhandlung mit oppositionellen Kräften und die Zulassung neuer Parteien ab.

Der Ruf nach politischer Beteiligung, der sich in der Parole „Wir sind das Volk“ kundtat, schlug mit dem Ausruf „Wir sind ein Volk“ in die Forderung nach der politischen Vereinigung Deutschlands über. Die Ergebnisse der ersten demokratischen Wahl im März 1990 zugunsten der „Allianz für Deutschland“ sowie der anhaltende Ausreisestrom in Richtung Bundesrepublik intensivierten das Interesse an einem schnellen Zusammengehen der beiden deutschen Staaten. Vorstellungen von einem „Dritten Weg“ einer reformierten DDR wurden damit eine Absage erteilt. Praktisch über Nacht war die Vereinigung der beiden deutschen Staaten in den Bereich des Greifbaren gerückt.

Die Ereignisse überschlugen sich und das Gefühl, die Gunst der Stunde ausnutzen zu müssen, forcierte innerdeutsche wie internationale Verhandlungen (9). Eine Lösung der deutschen Frage hing von der Zustimmung der alliierten Mächte ab und internationale Vorbehalte gegen die Vereinigung Deutschlands wurden nicht nur von der Sowjetunion, sondern auch von westlichen Bündnispartnern mit mehr (Großbritannien) oder weniger (Frankreich) Vehemenz artikuliert. In den „Zwei plus Vier“ Gesprächen zwischen den Vereinigten Staaten, Frankreich, Großbritannien und der Sowjetunion mit Vertretern der beiden deutschen Staaten übernahm die amerikanische Regierung eine entscheidende Führungsrolle (10). Bedenken der sowjetischen Regierung unter Mikhail Gorbatschow zunächst gegen eine Vereinigung an sich, dann gegen eine NATO-Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands und schließlich in Fragen des Abzugs sowjetischer Truppen aus dem Gebiet der DDR wurden durch Verhandlungsgeschick und großzügige finanzielle Angebote an die politisch und wirtschaftlich stark geschwächte Sowjetunion aus dem Wege geräumt. Nach anfänglichem Zögern räumte Bundeskanzler Helmut Kohl mit der Anerkennung der Oder-Neiße-Linie polnische Befürchtungen bezüglich einer Revision der deutschen Nachkriegsgrenzen aus dem Weg. Gemessen an den sonst üblichen Aufnahmekriterien stimmte die Europäische Gemeinschaft schnell und unbürokratisch zu, das Beitrittsgebiet der Bundesrepublik auf die ehemalige DDR auszuweiten.



(9) Konrad H. Jarausch, Die unverhoffte Einheit 1989-1990 (Frankfurt am Main, 1995) und ders., The Rush to German Unity (New York, 1994); Wolfgang Jäger, Die Überwindung der Teilung. Der innerdeutsche Prozeß der Vereinigung 1989/90 (Stuttgart, 1998); Charles S. Maier, Das Verschwinden der DDR und der Untergang des Kommunismus (Frankfurt am Main, 1999); Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hofmann, Hg., Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90 (München, 1998).
(10) Philip Zelikow and Condoleezza Rice, Sternstunde der Diplomatie. Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas (Berlin, 1997); Werner Weidenfeld mit Peter M. Wagner und Elke Bruck, Außenpolitik für die deutsche Einheit. Die Entscheidungsjahre 1989/90 (Stuttgart, 1998); Mary Elise Sarotte, 1989: The Struggle to Create Post-Cold War Europe (Princeton, NJ, 2009).

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