GHDI logo

1. Demographische und ökonomische Entwicklung
Druckfassung

Überblick: Reichsgründung: Bismarcks Deutschland 1866-1890   |   1. Demographische und ökonomische Entwicklung   |   2. Gesellschaft   |   3. Kultur   |   4. Religion, Bildung, Sozialwesen   |   5. Politik I: Reichsgründung   |   6. Militär und internationale Beziehungen   |   7. Politik II: Parteien und politische Mobilisierung

Bevölkerungswachstum, Migration und Berufsstruktur. Sobald man einzuschätzen versucht, weshalb die materiellen Bedingungen für viele Deutsche sich verbesserten und das Leben dennoch unsicherer wurde, sieht man sich einem Paradox gegenüber. Obwohl die wirtschaftlichen Möglichkeiten zunahmen und die Ausrüstungsgegenstände der modernen Technik sich in den Arbeitsstätten und Haushalten gleichermaßen ausbreiteten, zeitigten solche Veränderungen oft unwillkommene Folgen: erzwungene Migration vom Land in die unvertrauten Städte, ungesicherte Arbeitsplätze in dem Maße, wie verschiedene Berufssparten einen raschen Auf- und Abschwung erlebten, steigende Lebenshaltungskosten trotz Erhöhungen der Nominallöhne (D9) und der Verlust traditioneller Wurzeln, die auf diese oder andere Weise mit kleineren Lebenswelten in Zusammenhang standen. Deutschland erlebte auch in den Abschnitten vor und nach der Bismarckzeit eine rasche Urbanisierung. Doch das Wachstum der Städte und die einhergehende zahlenmäßige Abnahme der Deutschen mit Wohnsitz in ländlichen Gemeinden – jenen mit weniger als 2000 Einwohnern – ist in den 1870er und 1880er Jahren besonders ausgeprägt. Während 1871 nahezu zwei Drittel der Bevölkerung in solchen Landgemeinden lebten, traf dies 1895 nur noch auf weniger als die Hälfte zu. Die extremen Disparitäten bei den Bevölkerungsverschiebungen und den städtischen Wachstumsraten quer durch Deutschland lassen sich unmöglich übersehen (D1, D2, D3, D4, B1, B3, B4). Ohne die andauernde Auswanderung nach Amerika und zu anderen Zielorten wäre das Bevölkerungswachstum noch dramatischer ausgefallen. Trotzdem erschien es damals sicherlich folgenschwer. Als das Problem des „Pauperismus“ aus den 1840er Jahren sich zur „sozialen Frage“ der 1860er Jahre entwickelte, resultierte die Überbevölkerung in Berlin und anderen Großstädten in verwahrlosten „Mietskasernen“ (B2), welche die Kehrseite der Bewegungsfreiheit verkörperten.

Die Forschung vertrat früher die Auffassung, ein Großteil der Bismarckzeit habe unter einer großen Depression (1873-1896) gelitten. Diese „große Depression“ ist mittlerweile als ein Mythos entlarvt worden. Die 1870er und 1880er Jahre umfassten kürzere Hochkonjunktur- und Rezessionsphasen; um die kumulativen Auswirkungen Letzterer zu beschreiben, verwenden einige Historiker den Begriff „große Deflation“. Zudem erlitten manche Branchen schwerere Konjunktureinbrüche als andere. Nichtsdestoweniger setzte sich die Expansion der deutschen Wirtschaft im Großen und Ganzen fort. Ein solch langfristiges Wachstum war für die in diesen bewegten Jahrzehnten lebenden Deutschen nur schwer wahrzunehmen. Selbst kurze Einbrüche ihrer jeweiligen Berufssparte oder ihrer lokalen Arbeitsstätte konnten verheerende Folgen für das Familieneinkommen haben, besonders wenn sie durch Krankheit bzw. den Tod des Hauptverdieners oder verringertes Einkommen aufgrund zeitweiliger Arbeitslosigkeit oder Streiks verschlimmert wurden. Es lassen sich Zeiträume feststellen, in denen die Wirtschaft allgemein gut abschnitt: bei den Jahren 1866 bis 1873 und den frühen 1880er Jahren handelte es sich um solche Phasen, und die „Gründerzeit“ war von einem starken Aufschwung gekennzeichnet. Jenem Aufschwung folgte allerdings nach 1873 ein Abschwung, der viele Deutsche davon überzeugte, dass das kapitalistische System funktionsgestört sei (siehe Kapitel 3). Es spricht in der Tat einiges für die von Hans Rosenberg in den 1940er Jahren vorgebrachte These, dass sozioökonomische Verlagerungen und Ängste die radikalen politischen Bewegungen formten, die im Zeitraum von 1873 bis 1896 in den Vordergrund traten. In krassem Gegensatz zu den 1850er und 1860er Jahren einerseits und der Periode breiter gefächerter und nachhaltiger Prosperität zwischen 1896 und 1913 andererseits empfanden die Deutschen, dass sie in den 1870er und 1880er Jahren beispiellos schlimme Zeiten durchlebten. Jenes Gefühl der Not trug zu ihrer wachsenden Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen in der zweiten Hälfte von Bismarcks Amtszeit bei.


Seite 7

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite