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II. Gesellschaft und Kultur
Druckfassung

Überblick: Das Wilhelminische Deutschland 1890-1914   |   I. Wirtschaftliche Entwicklung   |   II. Gesellschaft und Kultur   |   III. "Modernes Leben": Diagnosen, Entwürfe, Alternativen   |   IV. Staat und Gesellschaft   |   V. Politik   |   VI. Außenpolitik   |   Deutschland im Krieg 1914-1918   |   I. Die Kämpfe   |   II. Mobilisierung der Heimatfront   |   III. Entbehrungen und Unruhen an der Heimatfront   |   IV. Der Weg zum Kriegsende

Die Industrialisierung bewirkte grundlegende Veränderungen im gesellschaftlichen Gefüge. Traditionen und Brauchtümer des Landlebens mussten sich gegen die Abwanderung eines Teils der Landbevölkerung in die Städte und Ballungszentren behaupten (Dok. 1, 2, 3, 4). In den mittleren Gesellschaftsschichten erhöhte sich die soziale Mobilität mit Deutschlands Übergang von einer ständischen zu einer Klassengesellschaft (Dok. 10, 11, 12, 13). Doch für viele war die soziale Schichtung eine Sackgasse. Die ungleiche Verteilung von Wohlstand, Bildung, Wohnraum und Gesundheit ließ innerhalb der Städte abgegrenzte Bereiche mit voneinander abweichenden Lebensstilen entstehen, wodurch spezifische Gruppenidentitäten gefördert wurden (Dok. 2, 3, 9). Diese Unterschiede riefen soziale Konflikte hervor, so dass Staat und private Organisationen sich zum Eingreifen veranlasst sahen, um die durch wirtschaftliche und gesellschaftliche Gegensätze hervorgerufenen Spannungen zu entschärfen oder wenigstens zu kontrollieren (Dok. 5, 6, 7, 8).

In dieser Klassengesellschaft wichen die Lebensstile der Aristokratie, des Bürgertums und der Arbeiterschicht deutlich voneinander ab. Während die politische Bedeutung des Adels im modernen Verwaltungsstaat schwand, blieb ihr privilegierter sozialer Status erhalten. Laut einer These zu den Ambitionen des Bürgertums, der „gehobenen Mittelklasse“, sei dies bestrebt gewesen aristokratische Lebensformen nachzuahmen in der Absicht die gesellschaftliche Anerkennung zu erhalten, welche es aufgrund seiner wFirtschaftlichen und wissenschaftlichen Leistungen zu verdienen glaubte (Dok. 14). Die so genannte „Feudalisierung des Bürgertums“ ist dafür verantwortlich gemacht worden, dass sich diese soziale Schicht für die gesellschaftlichen Werte des Militarismus, ein paternalistisches Autoritätsverständnis sowie einen antiquierten Ehrenkodex empfänglich zeigte (Dok. 15, 16). Unterdessen spielten sich Privatleben und Freizeitaktivitäten, deren Gestaltung schichtengebunden blieb, in öffentlichen Räumen wie Filmtheatern und Kaufhäusern ab, die technologischer Fortschritt und moderne Produktionskapazitäten ins Leben gerufen hatte (Dok. 17, 18).

Konfession, Geschlecht und Generation entschieden zwar nicht über die Zugehörigkeit einer Person zu einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht, können aber ebenso wenig von den Klassenstrukturen gelöst betrachtet werden. Selbst wenn die untergeordnete Stellung der Frau fest in allgemein akzeptierten Vorurteilen und gesellschaftlichen Konventionen verankert war und die Dynamik der deutschen Wirtschaft zunehmend Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen außerhalb des häuslichen Bereichs bot, wichen die Lebensumstände von Frauen aus der Arbeiterschicht wesentlich von denen bürgerlicher Frauen ab (Dok. 19, 20, 21, 22). Das Gleiche galt für die unterschiedlichen alltäglichen Erfahrungen junger und alter Menschen (Dok. 23, 24, 25). Der Kulturkampf verlor in der wilhelminischen Zeit zwar an Intensität, doch konfessionelle Gegensätze bestanden fort und Katholiken sahen sich weiterhin Diskriminierungen ausgesetzt (Dok. 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32). Viele Industriearbeiter lebten in einem katholisch geprägten Umfeld, wo die Einbettung sozialer Forderungen in radikale utopische Entwürfe aber weitestgehend auf Ablehnung stieß (Dok. 33). Juden waren in Deutschland schon immer antisemitischen Reaktionen ausgesetzt gewesen und in den 1890er Jahren sahen bereits die meisten von ihnen kulturelle Anpassung als Schlüssel zur vollständigen Integration (Dok. 34, 36). Der Traum von einem unabhängigen jüdischen Heimatland im Nahen Osten, welcher etwa zur gleichen Zeit entstand, übte auf die deutschen Juden kaum Anziehungskraft aus, obwohl der deutsche Kaiser dem Vorhaben Interesse entgegen zu bringen schien (Dok. 35).


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