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8. Religion
Druckfassung

1. Staat und Regierung   |   1.A. Staatenbund oder Nationalstaat?   |   1.B. Autoritäre Herrschaft oder Verfassungsstaat?   |   1.C. Emanzipation der Juden   |   2. Parteien und Organisationen   |   3. Militär und Krieg   |   4. Wirtschaft und Arbeit   |   5. Natur und Umwelt   |   6. Geschlecht, Familie, und Generationen   |   7. Regionen, Städte, Landschaften   |   8. Religion   |   9. Literatur, Kunst, Musik   |   10. Die Kultur der Eliten und des Volkes   |   11. Wissenschaft und Bildung

In den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts nahm die Säkularisierung in Deutschland zu; das galt besonders für das protestantische Bildungsbürgertum. Im Gegensatz zur Aufklärung des 18. Jahrhunderts nahm diese Säkularisierung nicht die Form einer Gegenbewegung gegen die christliche Offenbarungsreligion an, sondern entwickelte sich aus dem Christentum selbst heraus. Ein Schlüsseldokument dieser Entwicklung stellt das 1835 veröffentlichte Buch Das Leben Jesu des protestantischen Theologen David Friedrich Strauss (1808-1874) dar. Strauss wandte die Methoden der Bibelkritik an, die deutsche protestantische Theologen zum besseren Verständnis der Bibel entwickelt hatten. Er kam zu dem Schluss, dass die Berichte des Evangeliums über die Wunder und über den Tod und die Wiederauferstehung Jesu später entstandene, mythische Hinzufügungen zur Lebensgeschichte eines sterblichen Menschen seien. Noch weiter ging seine Behauptung, dass die Ideale der Lehre Jesu in einem säkularen Humanismus einen angemesseneren Ausdruck fänden als in der protestantischen Doktrin. Das Buch kostete Strauss seinen Lehrstuhl an der Universität Tübingen. Seine Berufung auf einen Lehrstuhl für protestantische Theologie an der Universität Zürich wurde von einer aufgebrachten Menge frommer Protestanten verhindert, seine Ideen jedoch blieben das ganze 19. Jahrhundert hindurch einflussreich.

Waren die Jahre zwischen 1815 und 1866 eine Zeit zunehmender Säkularisierung, so waren sie paradoxerweise auch eine Zeit wiedererwachender Religiosität. Unter den Katholiken Mitteleuropas entwickelte sich ein wachsender Glaube an die Gültigkeit religiöser Praktiken und Überzeugungen, die das aufgeklärte 18. Jahrhundert verworfen hatte: Dazu zählten die Verehrung der Jungfrau Maria, das Beten des Rosenkranzes, Wallfahrten und Prozessionen, sowie das Eingreifen Gottes in menschliche Angelegenheiten in der Form von Wundern. Ein frühes Beispiel dieser Form von Frömmigkeit war die große Wallfahrt zum Heiligen Rock von Trier. Etwa eine halbe Million Pilger kam im Jahr 1844 zum Trierer Dom, um das hier öffentlich ausgestellte Totenhemd Christi zu sehen (ein nahtloses Gewand, das Christus dem Johannes-Evangelium zufolge vor seiner Kreuzigung trug). Jacob Marx (1803-1876), Professor am Trierer Theologischen Seminar, beschrieb die Wallfahrt als Wiedererwachen katholischer Frömmigkeit.

Auch viele deutsche Protestanten erlebten zu dieser Zeit eine religiöse Erneuerungsbewegung, die zeitgenössisch als „Erweckung“ bezeichnet wurde. Die „Erweckten“, die sich entschieden gegen die rationalistischen Ideen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts und ihrer Fortsetzung im 19. Jahrhundert in den Thesen des Philosophen G.W.F. Hegel und seiner Anhänger (wie David Strauss) wandten, waren „wiedergeborene“ Christen, die eine persönliche Beziehung zu Jesus Christus erlebten und die biblische Offenbarung über die menschliche Vernunft stellten. Als Gruppe waren sie sehr aktiv bei der Gründung von Organisationen und Vereinen für wohltätige und fromme Zwecke. Ein Lieblingsprojekt der „erweckten“ deutschen Protestanten waren Missionsgesellschaften, die den „Heiden“ und den Juden das Evangelium näherbringen sollten. Das vorliegende Dokument über die Gründung derartiger Missionsgesellschaften in Elberfeld und Barmen – zweier Industriestädte im westlichen Teil Deutschlands, wo die Erweckungsbewegung sehr einflussreich war – verdeutlicht sowohl den theologischen als auch den geistigen Kontext der Erweckungsbewegung. Ihre ersten Anhänger waren zumeist nicht sehr zahlreich und versammelten sich in Konventikeln. Sie verstanden sich als Teil einer internationalen protestantischen Erneuerungsbewegung und wandten sich sowohl gegen den protestantischen Rationalismus des 18. Jahrhunderts als auch gegen die Ideen der Französischen Revolution.

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