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7. Die Originalität der deutschen Aufklärung
Druckfassung

1. Die Konturen des Alltagslebens   |   2. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation   |   3. Macht und Herrschaft im deutschen Territorialfürstentum: Der Ständestaat   |   4. Die Gesellschaftsordnung   |   5. Das Wirtschaftsleben   |   6. Kulturelles Leben im Anschluss an den Dreißigjährigen Krieg   |   7. Die Originalität der deutschen Aufklärung   |   8. Spannungen der Spätaufklärung   |   9. Schlußbemerkungen: Drei Geisteshaltungen des Zeitalters   |   10. Kurzbibliographie zusammenfassender Werke und allgemeiner Darstellungen zur deutschen Geschichte


Obwohl es üblich geworden ist, die Ideen der europäischen Aufklärung als Keimzellen von Revolutionen zu begreifen – 1776 in den dreizehn amerikanischen Kolonien, 1789 in Frankreich – halfen sie in Deutschland zunächst, das System des monarchischen Absolutismus zu festigen und neu zu legitimieren (wenngleich sich später ihre liberalen und demokratischen Implikationen deutlicher abzeichneten). Leibniz wurde der erste deutsche Philosoph von europäischem Rang nach 1648. Im Gegensatz zur ständigen Beschäftigung der religiösen Orthodoxie mit der Sündhaftigkeit des Menschen betonte er ein göttlich inspiriertes Streben innerhalb des menschlichen Lebens nach moralischer und intellektueller Vervollkommnung.

Doch der Pietismus, wenngleich sich durchaus der menschlichen Sündhaftigkeit bewusst, trug ebenfalls zur aufstrebenden Aufklärung bei, besonders durch seine Ausrichtung auf wohltätige und erzieherische Werke. An der pietistisch beeinflussten preußischen Universität Halle führten Christian Thomasius und Christian Wolff die Grundideen der westeuropäischen Aufklärung ein, insbesondere jene des Naturrechts, für die der deutsche Philosoph Samuel von Pufendorf bereits zuvor einen Beitrag geleistet hatte, der auch in der angloamerikanischen Welt einflussreich war. Thomasius bereitete außerdem den Weg für die Ersetzung von Latein mit Deutsch als Vorlesungssprache und trieb damit einen Prozess voran, der die Landessprache mit einer spezifisch deutschen Geisteskultur moderner Prägung in Verbindung brachte.

Die Grundprinzipien der europäischen Aufklärung besagten, dass der göttliche Schöpfer die physische und menschliche Welt nach inhärenten und unveränderlichen Gesetzen strukturiert und die Menschen mit der Gabe der Vernunft ausgestattet habe, was sie dazu befähige, sowohl die Naturgesetze als auch den Weg der Menschheit zu einer rational organisierten Glückseligkeit auf Erden zu erkennen. Das heißt, Gott befähigte sie, die befeienden Instrumente der wissenschaftlichen Erkenntnis zu entdecken und anzuwenden – hier wurden Isaac Newtons universelle Gesetze der Physik als paradigmatisch gefeiert – sowie das (vornehmlich vernunftgemäß gebildeten Männern zugängliche) Recht auf persönliche Freiheit und Selbstbestimmung, auch über den Weg der repräsentativen, konstitutionellen Regierung (als deren unwiderlegbarer Theoretiker der Engländer John Locke weithin bejubelt wurde).

Der Aufklärungsfortschritt war zudem ästhetischer Art und verwandelte die Kunst und Literatur in Wege hin zur geistigen Erhebung. Dies waren die Ideen, die in Deutschland so sprachgewandten Ausdruck fanden durch den Dramatiker Gotthold Ephraim Lessing, den Kunsttheoretiker Johann Joachim Winckelmann und den Dichter des Genialischen, Johann Wolfgang von Goethe, dessen Frühwerk – wie beispielsweise Die Leiden des jungen Werthers (1774) – eine antiautoritäre, sozialkritische Botschaft des kultivierten Individualismus, der emotionalen Befreiung und der Ästhetik verkündete.

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