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6. Kulturelles Leben im Anschluss an den Dreißigjährigen Krieg
Druckfassung

1. Die Konturen des Alltagslebens   |   2. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation   |   3. Macht und Herrschaft im deutschen Territorialfürstentum: Der Ständestaat   |   4. Die Gesellschaftsordnung   |   5. Das Wirtschaftsleben   |   6. Kulturelles Leben im Anschluss an den Dreißigjährigen Krieg   |   7. Die Originalität der deutschen Aufklärung   |   8. Spannungen der Spätaufklärung   |   9. Schlußbemerkungen: Drei Geisteshaltungen des Zeitalters   |   10. Kurzbibliographie zusammenfassender Werke und allgemeiner Darstellungen zur deutschen Geschichte


Unter den einfachen Leuten blieb das kulturelle Lebensfundament die Religion, vermischt mit volkstümlichem Wissen und Volksweisheiten. Doch als die Gesellschaft sich nach dem Dreißigjährigen Krieg wieder stabilisierte, wiesen erwachsene Männer und Frauen zunehmend die elementaren Schreib- und Lesekenntnisse auf, die mit dem Protestantismus, der Reform in der katholischen Kirche während der Barockzeit und dem Aufstieg des absolutistischen Staates einhergingen. Diese Leistung manifestierte sich auf niedrigstem Niveau in der Fähigkeit, die Heilige Schrift und das Gesangbuch zu entziffern, wenn auch nicht unbedingt im sicheren Unterzeichnen mit dem eigenen Namen. Über das gesamte 18. Jahrhundert hinweg zeigten viele unter den einfachen Leuten einen kräftigen Appetit für die Lektüre von Erbauungs- und Erleuchtungstraktaten sowie Flugblättern, die von den jüngsten Neuigkeiten berichteten – besonders über Sensationen, Katastrophen und Prophezeiungen. Die protestantische Frömmigkeit ermunterte unter denjenigen mit einer Neigung zum Verfassen der nach innen gerichteten Autobiografie, und sei es nur für die Schublade. Schließlich tauchten gegen Ende des Jahrhunderts Volksgelehrte auf, die ihre schonungslos offenen, aber hoffnungsvollen Lebensgeschichten und andere Schriften veröffentlichten, sehr zum Beifall der neuerdings aufgeklärten Oberschichten.

Die Söhne und Töchter der besitzenden Oberschichten, sowohl bürgerliche wie auch adlige, bewegten sich über elementare Lese- und Schreibkenntnisse hinaus hin zu einem unterschiedlichen Maß an Vertrautheit mit der gehobenen Kultur ihres Zeitalters. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts war dies in das theologisch orthodoxe Christentum in seinen vorherrschenden deutschen Formen eingebunden und sollte es ausdrücken und stärken. Danach schwächte sich die christliche Orthodoxie unter vielen Universitätsabsolventen im Beamtentum und den akademisch gebildeten Berufsgruppen sowie der Intelligenzschicht der Schriftsteller ab. Die Herausforderung kam vom metaphysischen Deismus, der Gott als Schöpfer eines rationalen Universums betrachtete, wenngleich der Deismus auch häufig (und manchmal unabsichtlich) christliche Konzeptionen und Bilder aus der biblischen Geschichte fortschrieb.

Außerdem entstand eine einflussreiche, quasireligiöse Naturästhetik, die als Pantheismus Ausdruck fand und teils von Theologen des Establishments (in Bezugnahme auf den dissidenten Denker des 17. Jahrhunderts, Baruch Spinoza, der die Vernunft und Gott deckungsgleich in der Natur fand) als „spinozistischer Atheismus“ angegriffen wurde. Doch die deutsche Aufklärung, die im späten 17. Jahrhundert anbrach und ihren Höhepunkt ein Jahrhundert später erreichte, behielt ein stark religiöses Verständnis bei, selbst wenn sie sich zunehmend von der christlichen Orthodoxie der Barockzeit abwandte. In Frankreich und England dagegen fiel die Übernahme des weltlich orientierten Rationalismus, Empirismus und (in unterschiedlichem Maße) Materialismus durch die Aufklärungskultur vehementer aus. Viele führende Persönlichkeiten im deutschen Geistes- und Kulturleben waren die Söhne protestantischer Geistlicher. Viele hatten außerdem Theologie an der Universität studiert.

Im protestantischen Deutschland stellte das Aufkommen des Pietismus Ende des 17. Jahrhunderts eine weitreichende Veränderung dar. Wenngleich angeführt von Geistlichen, handelte es sich dabei um eine Erneuerungsbewegung unter Laien, die auf die Personalisierung und Subjektivierung des Glaubens über die bloße mechanische Ausübung hinaus abzielte, auf Missionierung und die Veröffentlichung von Inspirationsschriften sowie auf die Pflege sozialer Bedürfnisse bei der Armenfürsorge und Erziehung. Obwohl vergleichbare Bewegungen anderswo in Deutschland entstanden, unterstützte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die preußische Monarchie den Pietismus. Sie tat dies sowohl zu ihrem eigenen Vorteil – über die Stärkung einer Arbeits- und Pflichtethik im öffentlichen Leben durch den Pietismus – als auch zugunsten der Bewegung, deren Institutionen königliche Gelder erhielten, selbst wenn dies nach 1740 unter dem freidenkerischen und skeptischen Friedrich II. endete.

Gefeierte und brillante Autoren in und nach der Aufklärung wie Gotthold Ephraim Lessing, Immanuel Kant, Johann Gottfried Herder, Novalis (Friedrich Philipp von Hardenberg), Friedrich Schiller, Johann Gottlieb Fichte und Georg Friedrich Wilhelm Hegel zeigen ein bemerkenswertes Talent für die Konzeptualisierung von Menschheitsidentität und -schicksal in einer Entwicklung hin zu einer (vielleicht nie vollständig zu erreichenden) Erfüllung im Geschichtsverlauf. Die Umwandlung der christlichen Heilsgeschichte in eine entsprechende Vorstellung vom irdischen Fortschritt, sei er kumulativ oder revolutionär, auf ein endgültiges (d.h. teleologisches) Ende hin – Vernunft, Freiheit, Demokratie, gottähnliche Selbsterkenntnis – fand überall dort statt, wo die Aufklärung leuchtete, aber nirgendwo heller als in Deutschland. Zweifellos hilft ein Wissen um den Einfluss Gottfried Wilhelm Leibniz’ bei der Erklärung dieses charakteristischen Merkmals, denn dieser früheste, weithin gelesene Universalgelehrte des deutschen philosophischen und naturwissenschaftlichen Rationalismus strebte zudem nach einem Verständnis von der Welt, in dem die göttliche Vorsehung es der Menschheit ermöglichte, im Verlauf der Geschichte moralische und intellektuelle Selbstvervollkommnung zu erreichen.

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