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3. Macht und Herrschaft im deutschen Territorialfürstentum: Der Ständestaat
Druckfassung

1. Die Konturen des Alltagslebens   |   2. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation   |   3. Macht und Herrschaft im deutschen Territorialfürstentum: Der Ständestaat   |   4. Die Gesellschaftsordnung   |   5. Das Wirtschaftsleben   |   6. Kulturelles Leben im Anschluss an den Dreißigjährigen Krieg   |   7. Die Originalität der deutschen Aufklärung   |   8. Spannungen der Spätaufklärung   |   9. Schlußbemerkungen: Drei Geisteshaltungen des Zeitalters   |   10. Kurzbibliographie zusammenfassender Werke und allgemeiner Darstellungen zur deutschen Geschichte


Die Niederlage und der anschließende stockende Fortgang der von den österreichischen Habsburgern ausgeübten Reichsgewalten führten dazu, dass die Verantwortung für die Durchführung staatlicher Funktionen auf die (häufig schwachen) Schultern Hunderter von Territorialfürsten in Deutschland überging. Sie und nicht die Kaiser waren es, denen nicht nur die Aufsicht und Aufrechterhaltung eines lokalen Gerichtssystems und der zugehörigen Polizeieinrichtungen oblag,sondern auch das Kommando über Milizen und Armeen, ob winzig oder groß, sowie die Zusammenarbeit mit den christlichen Kirchen bei der Versorgung mit geistlichen, wohltätigen und bildungsbezogenen Segnungen.

Diese Aufgaben nahmen sie nicht autokratisch in die Hand, sondern in Zusammenarbeit mit den kommunalen, adligen und kirchlichen Körperschaften, die sich über mehr als 1000 Jahre seit dem Fall des Weströmischen Reiches im 5. Jahrhundert herausgebildet hatten. Es handelte sich um oligarchische, aber oft gewählte Räte und Verwaltungen in Dörfern und Städten, um regionale Versammlungen mit Abgeordneten des Landadels, des hohen Klerus, des wohlhabenden Bürgertums und in einigen wenigen Gebieten auch der unabhängigen Bauernschaft. Dies waren die (gesetzgebenden) Stände des Reiches.

Die soziale Strukturierung nach Ständen war allgegenwärtig. Die im Reichstag vertretenen Fürstentümer und Städte waren im Verhältnis zur kaiserlichen Macht Reichsstände, während die über 1000 Reichsritter sich ihrer Stellung als Standesherren rühmen konnten. Dementsprechend regierten in den unzähligen Territorialfürstentümern die Herrscher unter Mitbeteiligung der Stände ihrer eigenen Ländereien, sei es in solch großen Staaten wie Österreich und Preußen auf Provinzebene oder in den kleineren Territorien in einer einzigen zentralen Versammlung, den Landständen. In protestantischen Fürstentümern schrumpften die Stände normalerweise, sodass sie nur noch den Landadel und die bedeutenden Städte vertraten. In den katholischen Kirchenfürstentümern boten die in den Domkapiteln mit geteilter Macht vertretenen weltlichen Adligen eine unterschiedliche Ausprägung des Ständekonzepts, während die Kirchenoberen die ständischen Freiheiten ihrer untertänigen Städte anerkannten. In katholisch regierten weltlichen Fürstentümern bestanden die Angehörigen des hohen Klerus als einer der drei traditionellen Stände fort.

Historiker begreifen das frühneuzeitliche Territorialfürstentum häufig als Ständestaat, weil die Herrscher dazu verpflichtet waren, die Stände in Bezug auf neue Gesetzgebung zu konsultieren. Steuererhebungen wurden gewöhnlich auf kurze Zeiträume verabschiedet, die der Verlängerung bedurften, die allerdings nicht immer gewährt wurde. In vielen Fällen erwiesen sich die Stände als mächtiger als der Fürst, und rangen ihm durch ihre Exekutivausschüsse und ihren Einfluss auf fürstliche Beamte die Kontrolle über die Innen- und Außenpolitik ab. Im Zuge dessen wiesen einige wenige deutsche Fürstentümer – darunter ist das Herzogtum Mecklenburg an der Ostseeküste ein gutes Beispiel – bis ins 19., ja 20. Jahrhundert hinein sogar einen oligarchischen Parlamentarismus mit einem abhängigen oder rein symbolischen Monarchen auf. Doch so lange keine unbotmäßigen oder revolutionären Bewegungen von unten aufkamen, die eine Abschaffung der ständisch verfassten Privilegien und eine politische Mitbestimmung der einfachen Leute forderten, verkörperte der deutsche Ständestaat eine praktikable politische Verfassung, vergleichbar mit vielen weiteren in Europa (wie z. B. in den französischen und spanischen Provinzen, Skandinavien, den Niederlanden, Ungarn und Polen).

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