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1. Die Konturen des Alltagslebens
Druckfassung

1. Die Konturen des Alltagslebens   |   2. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation   |   3. Macht und Herrschaft im deutschen Territorialfürstentum: Der Ständestaat   |   4. Die Gesellschaftsordnung   |   5. Das Wirtschaftsleben   |   6. Kulturelles Leben im Anschluss an den Dreißigjährigen Krieg   |   7. Die Originalität der deutschen Aufklärung   |   8. Spannungen der Spätaufklärung   |   9. Schlußbemerkungen: Drei Geisteshaltungen des Zeitalters   |   10. Kurzbibliographie zusammenfassender Werke und allgemeiner Darstellungen zur deutschen Geschichte


Historiker haben dieses Zeitalter seit langem deswegen herausgestellt, weil es den militärisch-bürokratischen Machtstaat, die vernunftbestimmte Philosophie der Aufklärung und die kulturelle Blüte der „Goethezeit“ hervorbrachte. Die großen „Modernisierungs“-Narrative verknüpfen diese beherrschenden Entwicklungen mit dem Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft, verbunden mit einer durch liberale und nationalistische politische Ansichten geprägten Öffentlichkeit, sowie mit den neuen Energien der kapitalistischen Marktwirtschaft, die Deutschland an die Schwelle zur industriellen Revolution vorantrieben.

In den Augen darauf folgender Generationen erschien dieses Zeitalter in unterschiedlichen Ausprägungen. Trotz der Heftigkeit und politischen Doppelzüngigkeit der vorangegangenen Religionskonflikte, die ihren Höhepunkt im Dreißigjährigen Krieg von 1618 bis 1648 gefunden hatten, blieb Deutschland im späten 17. Jahrhundert und im 18. Jahrhundert ein zutiefst christliches Land. Ein Land, in dem die Entdeckung des Wegs zum Seelenheil bei weitem schwerer wog als alles, was Menschen unbewusst zu einer zukünftigen, angeblichen und (wie sich herausstellte) häufig der Selbsttäuschung unterliegenden „weltlichen Moderne“ beitrugen.

Aus Sicht der Herrscher Deutschlands – der Kaiser, der Hunderten von Territorialfürsten – bedeutete mit Ausnahme einiger ehrgeiziger Monarchen die Wahrung des weitläufigen Heiligen Römischen Reiches als Bollwerk des internationalen und innenpolitischen Friedens und als Vermittler und Gerichtsbarkeit unter seinen Teilfürstentümern weit mehr als die Visionen souveräner Unabhängigkeit des einen oder anderen deutschen Staates. Die „deutsche Nation“ und die „deutsche Einheit“ waren als Konzepte nur insofern bedeutsam, als sie im alten Reich verkörpert waren. Nach „Ruhm“ zu streben war ein gebührendes Ziel für einen deutschen Herrscher, doch nicht in höherem Maße als das „Wohl“ und die „Glückseligkeit“ seiner Untertanen.

Was jene anbetraf, seien sie von hoher oder niedriger Geburt, die von ihrem privaten Eigentum oder ihrer Arbeit lebten, so war es das große Lebensziel, einem vorzeitigen Tod durch Krankheit oder Krieg zu entkommen, um dann eine gute Partie zu machen, Nachkommen hervorzubringen und den eigenen Haushalt so unabhängig wie möglich zu verwalten. Und dies in einer Welt, die unausweichlich strukturiert war durch Herrschaft und die Verpflichtungen zum „Dienst“, die sie den Ober- ebenso wie den Unterschichten auferlegte. „Freiheiten“ und „Rechte“ waren historisch, erblich und häufig individuell oder gemeinschaftlich, nicht aber universell und egalitär. Sie schützten und privilegierten jene, die Anspruch auf sie erheben konnten, jedoch ohne sie von der Unterwerfung unter kirchliche und weltliche Obrigkeit zu befreien.

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